Am Meer ist immer was los
Der Himmel war grau. Wolken jagten über das Meer hinweg, um am Horizont zu verschwinden. Es schien, als hätten sie etwas wichtiges zu erledigen. Keine Zeit zum verweilen, keine Zeit sich aufzutürmen.
Marie liebte diese Tage, wenn das Meer fast schwarz war und der Sand grob und unnachgiebig. Sie spazierte an den Dünen entlang und versuchte den Wind mit ihren Händen einzufangen. Ihre Fingerspitzen streiften das Dünengras, das aufgeregt rauschte.
Sie wusste irgendetwas besonderes hält dieser Tag für sie bereit. Es sind immer diese Tage, an denen die Anderen sagten, «es wird auch wieder besser», die ganz besonders waren. Nur wusste das niemand. Kaum einer ging gern hinaus, wenn der Wind heulte und die Kiefern im Dünenwäldchen ächzten. Die Luft war kalt und feucht. Sprühnebel wehte einem um die Nase, wenn man nicht sein Gesicht tief in den Schal zurück zog.
Mit der Bommelmütze tief im Gesicht schritt das Mädchen bis zur Wasserkante. Hier spülte das Meer die Dinge an, die es nicht gebrauchen konnte. Und das war bei solch einem Wetter jede Menge. Vor allem Flaschen und Tüten, weisse Plastikgabeln und kaputte Trinkbecher. Und jede Menge Tang.
Im Tang, der oft ziemlich fischig roch, hing dann noch mehr Müll. Schätze konnte man darin nicht finden, aber einmal hatte Marie Glück und fand eine goldene Kette mit einem kleinen, grünen Stein als Anhänger darin.
Sie stiess im Vorbeigehen mit den gelben Gummistiefeln gegen den Tanghaufen, als sein er ein Fussball. Ihr Fuss traf etwas Festes. Dann bewegte sich der Haufen und da wühlte sich ein kleiner Mann aus dem Haufen heraus. Er reichte Marie nicht bis zum Knie. Seine Haut war Blassblau und ein grüner Bart kringelte sich um sein Kinn.
«Beim heiligen Klabautermann, wieso zur Hölle weckst du mich? Hast du denn nicht gesehen, dass ich schlafe? Das ist doch die Höhe.» Der kleine Mann trat auf der Stelle herum, drehte sich. Besah sich seine Beine. Reckte und streckte sich.
«Und wer bist du? Unwissende», sagte er, als er wieder ruhig zum Stehen kam.
«Öhm, Marie», antwortete Marie.
«Öhm Marie also. So so. Und du meinst es ist höflich und angebracht einen alten Seebär, wie mich aus seiner Koje zu treten. Nachdem selbiger, also ich, die Weltmeere besegelt und die Ungeheuer der Tiefsee bezwungen habe?»
Marie sah verwirrt auf den kleinen Mann. Ihre Nasenspitze reckte sich über ihren Schal, dann die blauen Augen und die dicke Wollmütze. Von ihrem Gesicht war nicht viel zu sehen.
«Ich glaube, ich weiss nicht ...», stotterte sie.
«Das sieht man. Aber nichts zu wissen, ist keine Ausrede. Anstand wird man dir wohl beigebracht haben. Und der Anstand sagt,...»
Marie unterbrach den Mann.
«Der Anstand sagt, dass man sich vorzustellen hat, bevor man jemanden dermassen beschimpft.» Sie hatte die Nase voll sich von einem Zwerg oder Kobold, oder was auch immer beschimpfen zu lassen. Sie hatte doch nicht um sonst die Schule geschwänzt und ist bei diesem Wetter zum Strande gegangen, um sich jetzt ihre gute Laune verderben zu lassen. Nicht mit ihr.
Die ganze Zeit hatte sie neben dem Mann gehockt. Doch jetzt stand sie auf und wollte gehen.
«Warte. Du hast recht», sagte die krächzende Stimme des kleinen Mannes.
«Kasimir Humbuck der Dritte.» Der Mann verbeugte sich und zog seine Strickmütze vom Kopf. Darunter war er kahl.
Marie lachte. Dann verbeugte auch sie sich.
«Marie Brigitte Schacht.» Sie zog ihre Mütze vom Kopf, der ebenfalls kahl war.
«Und wer bist du?», fragte sie höflich und zog sich schnell die Mütze wieder über die Glatze. Eigentlich zeigte sie kaum jemanden ihren kahlen Kopf. Aber das hier war war anderes.
«Hast du denn nicht zugehört? Kasimir Humbuck der Dritte. Klabauter im Namen der Königin.»
Ohh, das war spannend. Ein richtiger Klabautermann. Marie setzte sich in den feuchten Sand.
«Welche Königin?»
«Na, die von, von dem Land da», sagte Kasimir Humbuck zögerlich. Er kannte sich mit Geografie gar nicht aus.
«Welches Land denn? Das hier?»
«Nö. Da drüben», meinte der Klabautermann und kratzte sich verlegen am Kopf.
Sie blickten beide aufs Meer hinaus.
«Und dein Schiff?»
«Schiffbruch.»
Das war ja traurig. Marie sah sich um. Doch sie konnte keine Trümmer im Tang entdecken. Kasimir kletterte über den Tang.
«Wenn du schon mal hier bist. Und ich wach bin, woran du nicht ganz unschuldig bist, dann könnten wir doch was essen.» Kasimir sah Marie mit grossen Augen an.
«Was isst denn ein Klabauter? Fisch vielleicht?», fragte das Mädchen, das eigentlich ganz brav mit all den anderen Kindern in der Schule sitzen müsste und lernen. Doch Marie lernte lieber draussen, vom Leben und der Natur. Aber sie hatte ihre Schultasche dabei und darin gab es ein Pausenbrot.
Sie packte das Brot aus und teilte es.
«Es ist kein Fisch, nur Gurke. Meine Mutter ist Vegetarierin. Fisch gehört ins Meer, sagt sie immer.»
Kasimir biss hungrig in das Brot.
«Hmmmm. Da hat sie aber auch recht», sagte er schmatzend. «Das mit dem Fisch ist ziemlich übel geworden. Ganz leer ist es da unter der Oberfläche geworden. Früher gab es viel mehr Fische.»
«Woher weisst du das denn?», fragte Marie.
«Weil mein Schiff unter Wasser fährt. Oder gefahren ist. Ich war Klabautermann auf einem U-boot.»
Marie überlegte. U-Boot. Das kannte sie nur aus dem Geschichtsunterricht. Wenn es irgendwo einen Krieg gab, dann setzte man auch U-Boote ein. Gab es denn irgendwo Krieg?
«Und was ist mit dem U-Boot passiert?» Marie steckte sich den Rest von ihrem Gurkensandwich in den Mund und wischte sich die Hände an der Jacke ab.
«Weg», sagte Kasimir.
«Wir waren auf einer Insel. So schön war es da, das kannst du dir nicht vorstellen. Weisse Strände und blaues Meer und riesige Schildkröten und Leguane.
Nicht so wie hier, grau und schwarz und Müll.» Der Klabautermann biss von seinem Brot ab und sah sich traurig um.
«Aber hier ist es doch auch schön. Ich mag den Wind und das stürmische Meer.»
«Ja, das ist okay. Aber der Müll.»
«Nee, den mag ich auch nicht.»
Dann sahen beide wieder aufs Meer hinaus.
«Und was willst du jetzt machen?»
«Ich brauche ein neues Schiff. Klabautermänner leben nur auf Schiffen. Kein Schiff, kein Klabautermann.»
Und da erst bemerkte Marie, dass Kasimir Humbuck etwas durchscheinend geworden war. Sie dachte nach. Wo kriegt sie jetzt bloss ein Schiff her?
«Wir müssen zum Hafen.» Sofort sprang sie auf und rannte los. Kasimir folgte ihr. Schnell war er, auf seinen kurzen Beinen.
«Wo ist der Hafen?», rief er gegen den Wind an.
«Nicht weit. Wenn wir Glück haben, liegen ein paar Kutter vor Anker.»
Da sah Marie auch schon die ersten Segelmasten der schönen Yachten. Ob das was für den Klabauter wäre? Oder doch lieber ein Fischkutter?
Marie bemerkte, das von Kasimir kaum noch ein Hauch zu sehen war. Sie rannte nun noch schneller. Und als sie am Hafen angekommen waren, hörte sie ein leises Poltern auf einem kleinen Kahn.
Verwirrt sah sie sich um, von Kasimir keine Spur. Sie rief übers Meer hinaus seinen Namen. Und da bemerkte sie ein kleines blaugrünes Funkeln auf dem Kahn, an dem sie gerade vorbei gerannt war.
«Kasimir?»
«Danke Marie!» Die leisen Worte verhallten im Wind. Und Marie?
Die ging lächelnd an den Kuttern und Yachten vorbei und dachte, Kasimir hätte sich kein besseres Boot aussuchen können, als dass von Grossvater Larsson, ein Wetter gekerbter Seemann mit dichtem Bart und kahlem Kopf.