Das Haus am Meer

Das Haus am Meer

Es war einer dieser trüben Nachmittage. Constanze öffnete die Balkontüren und ging hinaus. Das Holz knarrte unter ihren Füssen. Sie lehnte sich gegen das Geländer und liess ihren Blick über den Garten wandern. Es gäbe hier noch so viel zu tun, dachte sie. Am Ende des Gartens standen hohe Bäume. Hier begann der Wald. Nebelgeister traten aus den Schatten und tanzten um die kahlen Stämme der hohen Fichten. Früher hatte sie das romantisch gefunden. Heute wusste sie es besser. Sie hatte Angst. Die Nebel verschwanden nie ganz. Immer waberten sie bedrohlich am Waldrand. Martin hatte ihr erklärt, das kommt vom Meer. Hinter dem Wäldchen fielen die Klippen steil hinunter ins Meer. Der Temperaturunterschied lässt den Nebel entstehen. Und die Bäume mit ihren kühlen Schatten halten ihn fest. Aber im Garten war es freundlich, warm und offen. Da konnten die Nebel sich nicht halten. Sie brauche keine Angst zu haben.

Aber er hörte ja auch nicht die Stimmen aus dem Nebel. Er sah nicht wie die wabernden Arme sie lockten. Und wenn sie ihm davon erzählte… Er lachte nur über ihre verträumte Art. Das liebe ich so an dir. Du siehst Dinge, die über das eigentliche Hinausgehen, hatte er gesagt. Doch wie sehr er sie damit traf, bemerkte er zu spät.

Constanze hörte das Rauschen der Wellen, wie sie wütend die Brandung gegen die Klippen schlugen. Dort in Millionen kleiner Tropfen zersprangen. Sie fühlte die Wucht in sich. Der Wind umfing sie kühl. Sie musste das Schultertuch enger um sich wickeln, wollte sie noch ein bisschen hier stehen und die Nebel beobachten. Ihre blonden Haare züngelten wie Flammen um ihren Kopf.

Als sie vor 10 Jahren zu Martin in sein Haus an den Klippen gezogen war, war sie einfach nur glücklich und verliebt. Das Meer rauschte fern und ein würziger Duft kam vom Wäldchen herüber geweht. Constanze begann um die grosse Terrasse einen Garten frei zu legen, der vollständig überwuchert war. Das Grundstück ging bis zum Wald, eigentlich bis zu den Klippen, hatte Martin gesagt.

Martin verdiente genug für sie beide. Constanze brauchte nicht zu arbeiten. Geniess doch die Zeit und koch was schönes für uns, hatte er gesagt. Und so lernte sie kochen und gärtnern und sogar Klavier spielen. Aber die Tage waren lang, zu lang so alleine im Haus.

Eines Tages ging sie an den grossen Fenstern entlang und betrachtete die Pfingstrosen im Garten. Da bemerkte sie plötzlich Schatten, die im Nebel umher liefen. Ihr war zuvor die dunstige Luft, die der Wald verströmte nie aufgefallen. Doch nun war der Nebel dicht und unheimlich. Er bewegte sich zwischen den Bäumen und Schatten glitten in ihm umher.

Constanze erschrak. Doch am Abend lächelte Martin sie nur an. Er strich ihr das Haar hinters Ohr und küsste sie. Dann nahm er sie mit. Sie gingen durch den Garten. Es war noch nicht ganz dunkel. Constanze wurde immer langsamer. Ihr Herz klopfte wild. Martin zog sie hinter sich her.

„Wo gehen wir hin?“, fragte sie ängstlich.

„In den Wald. Du wirst sehen, da ist nichts. Hinter dem Wald sind die Klippen. Es ist ein schöner Blick von dort übers Meer.“ Er lächelte. Doch irgendetwas stimmte mit seinem Blick nicht. Constanze hielt sich mit beiden Armen krampfhaft an ihm fest. Ihre Angst war so gegenwärtig, wie der Nebel.

Feuchte Luft schlug ihnen entgegen. Sie betraten den Wald. Der Boden war mit Moos bedeckt. Kein Geräusch, kein Vogel, nicht einmal knackende Zweige, nur das eintönige Rauschen der Brandung war zu hören. Sie gingen wenige Meter und dann traten sie plötzlich ins Freie. Da war das Meer. Schroffe Klippen mit Algen und Flechten bewachsen. Sie setzten sich auf einen glatten Stein.

„Vor ein paar Jahren,“ begann Martin das Gespräch. Er atmete tief ein. „Ich war schon lange nicht mehr hier gewesen. Aber mit dir ist alles anders. Ich liebe dich.“, sagte er und küsste sie. Er sprach nicht weiter.

„Was war vor ein paar Jahren?“

„Ach nichts. Es ist nicht so wichtig.“ Doch Constanze sah ihn fragend an.

„Es ist lange her, da hat sich eine junge Frau hier die Klippen hinunter gestürzt. Keiner weiss warum. Komm lass uns gehen“. Er sprang mit einem Mal auf und verschwand im Wald. Constanze rief nach ihm. Doch die Brandung war zu laut. Sie sah sich um. Vielleicht gab es einen anderen Weg. Da waren nur steile Felsen ins Meer. Irgendetwas schien im Wasser zu treiben, doch es war bereits zu dunkel, um es zu erkennen. Sie drehte sich um. Dann muss sie durch den Wald zurück. Sie rief immer wieder nach Martin. Sie hielt die Luft an und rannte los. Den Blick am Boden rannte sie und rannte. Sie stolperte, doch fiel nicht. Der Wald umfing sie düster und unheimlich. Äste griffen nach ihr, streiften ihre Arme und rissen an ihren Haaren. Im Nebel sah sie eine Gestalt. Ihr Herz blieb fast stehen. Dann fiel sie erschöpft auf der anderen Seite atemlos zu Boden. Ihre Arme bluteten und Ihr Haar war zerzaust. Das Herz schlug ihr bis in den Hals. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie Martin an.

„Warum … hast … du … nicht … auf … mich gewartet?“, keuchte sie.

„Ich dachte du bist direkt hinter mir. Was ist denn passiert? Du siehst ja fruchtbar aus. Komm gehen wir rein.“ Er nahm sie in den Arm und schob sie ins Haus. Dort kümmerte er sich rührend um sie. Pflegte sie sogar einige Tage bis sie sich wieder erholt hatte. Doch so richtig erholte sie sich nie.

Ihre Ängste wuchsen mit jedem Tag. Dunkle Schatten legten sich unter ihre Augen und die Anspannung wich nie mehr ganz von ihrem Körper. Bis …

Bis heute. Nun konnte sie auf den Wald und seinen Nebel sehen und dabei lachen. Wie eine Irrsinnige lachte sie nun erleichtert. Jetzt wo sie befreit war. Sie ging wieder ins Schlafzimmer. Schloss die Fenster und sah zufrieden auf ihre Koffer.

Sie drehte ihren Kopf zum Bett.

„Du hättest mir damals gleich sagen sollen, dass deine erste Frau über die Klippen gegangen ist. Vielleicht hätte ich dann die Schatten und die Nebel besser verstanden.“, sagte sie hart. Constanze breitete ein weisses Leinentuch über dem Bett aus. Rote Flecken durchtränkten sofort den Stoff. Doch sie achtete nicht darauf. Sie nahm ihre Koffer und verliess das Haus.

Neben dem Bett lag der Abschiedsbrief, den Martins erste Frau geschrieben hatte. Er hatte sie in den Wahnsinn getrieben und schliesslich ist sie vor ihren Ängsten davon gelaufen, direkt in den Wald und über die Klippen.