Der Geruch von Mörtel (3)

Der Geruch von Mörtel (3)

Wieder ein neuer Tag. Ich ritzte einen neuen Strich in die Kalkwand. Verharrte kurz und sog den Geruch des feinen Staubes ein. Kurz flammten Bilder in mir auf. Einige Treppenstufe mit ihrem markanten Steinmuster, rote Riemchenschuhe, weisse Söckchen und Beine, zarte unschuldige Beine. Beine eines Kindes. Doch dann verblasste die Erinnerung und ich kehrte zu meinem Alltag zurück.

Um meine Muskeln und Gelenke zu stärken, hatte ich mir ein tägliches Training ausgedacht. Bis jetzt fehlte immer noch jeglicher Kontakt. Ich war seit mehr als zwei Wochen in dieser Zelle eingesperrt und bemerkte wie bereits mein körperlicher Verfall einsetzte. Also begann ich mit einfachen Übungen, Liegestütze, Sit-ups, Dehnungsübungen, auf der Stelle laufen und springen. Von Tag zu Tag variierte ich die Übungen und verbesserte sie, passte sie den Umständen an. Ich fühlte mich schon bald wohler. Ich hatte eine Beschäftigung, dabei verging die Zeit. Doch leider nicht genug. Ich hatte zu viel Zeit. Zeit, die fast völlig still stand. Einmal brüllte ich die, die mir das Essen brachten an, sie mögen mir doch wenigstens ein Buch bringen. Und wenn es die scheiss Bibel gewesen wäre. Aber nichts. Also blieb mir einzig das Training.

Ausser der körperlichen Fitness, begann ich mein Gehirn zu trainieren. Anfangs durch einfachste mathematische Aufgaben, das Einmaleins, Berechnung der Fläche und des Volumens meiner Zelle. Ich versuchte sogar die Quadratzahl zweistelliger Zahlen auszurechnen. Nur um nicht verrückt zu werden. Was hatten wir nicht alles in der Schule gelernt. Irgendwo musste das doch noch in meinem Kopf gespeichert sein. Ich forschte nach Zusammenhängen, die wir in Biologie, Physik und Chemie gehabt hatten. Der menschliche Körper, ein faszinierendes Feld.


Ich betrachtete die Schautafel an der Wand, der Körper mit Blutkreislauf, Muskeln und Organen. Unsere Lehrerin stand neben dem Schaubild und erklärte die Zusammensetzung des Blutes, Blutkörperchen, Gerinnungsstoffe, sauerstoffarmes Blut, mit Sauerstoff angereichertes Blut. Sie hatte einen Knielangen engen Rock an. Ihre Strumpfhose knisterte leise, wenn beim Gehen ihre Beine gegeneinander rieben. Ich war gleichermassen von dem Geräusch, wie auch von ihren Worten fasziniert. Sah das sauerstoffreiche Blut wirklich anders aus, heller? Mir war es nie aufgefallen. Und ich hatte schon einiges Blut gesehen. Wie schnell lief bei einer Schlägerei Blut aus einer Nase, oder aufgeschlagene Knie, kleine Schnittverletzungen… Es gab genug Gelegenheiten, doch ich habe nie darauf geachtet, welche Farbe das Blut hatte. Ich ging nach dem Unterricht zu Frau Borchardt. Sie war im Vorbereitungsraum und räumte die Karte weg. Sie hatte mich nicht gehört. Genüsslich beobachtete ich die schlanke Gestalt von hinten. Wie sich ihr Hintern unter dem Rock hin und her bewegte. Sie war nur etwas grösser als ich, obwohl ich erst 13 Jahre alt war. Sie streckte sich, um die Karte in ein Fach zu schieben. Ich trat eng an sie heran. Sie erschrak und drehte sich zu mir um. Doch ich lächelte sie nur an. Dann fragte ich,

„Wenn ich mich schneide, wie erkenne ich dann, ob es sauerstoffreiches, oder sauerstoffarmes Blut ist?“ Sie überlegte kurz.

„Warte, ich erklär es dir an der Karte.“, sagte sie und streckte sich nach der Karte. Da schob ich mein Bein zwischen ihre und stiess ihren Füss beiseite. Sie taumelte und viel in dem engen Raum zu Boden. Ängstlich und wütend zugleich sah sie mich an. Doch da kniete ich schon auf ihr und hielt ihr Handgelenk. Ich schnitt mit einem kleinen Messer in ihren Unterarm und auf der anderen Seite auch. Blut quoll aus den kleinen Wunden. Frau Borchardt aber sah mich starr vor Schreck an. Sie zitterte. Als sie etwas sagen wollte, presste ich ihr meine Hand auf den Mund.

„Sehen sie. Kein Unterschied, oder?“, sagte ich und sie schüttelte ihren Kopf. Ihre Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen. Ich liess meine linke Hand langsam über ihre Strumpfhose gleiten und lauschte dem Geräusch. Dann stand ich auf und ging. An der Tür drehte ich mich noch einmal um. Ich legte einen Finger auf meine Lippen. „Schhhhh“, hauchte ich und sie nickte. So weit ich weiss hat sie mit niemanden darüber geredet. Aber in den folgenden Biologiestunden hielt sie grossen Abstand zu mir. Sie trug auch keine Röcke mehr. Schade.


Ich zählte jeden Liegestütz und dachte dabei an die fasrigen Muskeln auf dem Schaubild. So fest ich konnte, spannten ich meinen Körper an. Ich wollte sie spüren, jeden einzelnen Strang. Geräuschvoll stiess ich meinen Atem aus, wie ein Rennpferd, oder ein Bulle beim Sex. Ich dachte an meine Biologielehrerin und empfand eine tiefe Zufriedenheit dabei. Dann wurde die Stahltür zu meinen Zelle aufgeschlossen. Etwas flog durch die Eisengitter auf meine Pritsche. Langsam richtete ich mich auf. Wischte mir den Schweiss vom Körper sah auf das Buch, das dort lag.

Ein Buch. Sie hatten mir ein Buch gegeben. Es war nicht sehr dick. Der dunkelrote Einband war alt und abgewetzt. Doch ich empfand eine unglaubliche Glückseligkeit.