Der Geruch von Mörtel (4)

Der Geruch von Mörtel (4)

Plötzlich begannen die Träume. Ich lag auf meiner, an der Wand befestigten Pritsche. Am Boden lag das Buch. Aufgeklappt, auf den Seiten. Ich lass jeden Tag nur wenige Seiten darin. Begann jedes Mal von vorn und lass nur eine weitere Seite. Wer weiss wie lange ich hier bleiben musste, wie lange dieses Buch alles für mich war?

Wenn es dunkel wurde, legte ich mich hin und starrte an die Decke. Beobachtete die Lichtkegel, die über die Wände wanderten. Oranges Licht, wie von Strassenlaternen. Nur bewegten diese sich nicht.

Einmal flog ein dunkler Schatten durch den Lichtkegel. Ein Vogel musste auf dem Fensterspalt gelandet sein. Es berührte mich gleichsam, wie es mich wütend machte. Da draussen gab es noch etwas. Ich hatte es fast vergessen. Wenn man wochenlang nichts sieht, nichts hört, beginnt man die Welt zu vergessen. Doch in den langen Nächten kehrt die Welt zurück. Eine Welt, die so nie gewesen war, oder vielleicht doch?


Ich liebte mein neues Leben. Hier war ich der Chef. Mit 12 Jahren war ich der, der das Sagen hatte. Und nicht nur auf den Spielplätzen, zwischen den Garagenblocks und der Grauzone. Mein Ruf verbreitete sich unter den Kindern schnell. Nun war auch die Schule mit ihren 600 Schülern mein Revier. Es gab nur noch die, die sich fügten und eben die Anderen. Doch die waren kein Problem. Längst hatte ich ein grosses Netzwerk an Helfern um mich gescharrt. Sie trieben für mich die Schutzgelder ein und regelten die unangenehmen Sachen. Ich hielt mich, so weit es ging aus Prügeleien raus. Doch galt es einen meiner Jungs, oder Mädchen bei den Lehrern rauszuboxen, war ich sofort zur Stelle. Eines meiner grössten Talente, ich konnte sehr überzeugend sein. Die Lehrer tuschelten, der Direktor liess sogar meine Mutter kommen, doch nie konnte man mir irgendetwas nachweisen. Ich arbeitete stets sorgfältig.

Mit den Lehrerinnen hatte ich kaum Probleme. Entweder waren sie kompetent und nett oder sie reizten mich. Für beide hatte ich Strategien entwickelt, die einen wickelte ich um den Finger, ich war ein guter, strebsamer Schüler, die anderen hatte ich ähnlich wie Frau Borchardt schnell unter Kontrolle. Die Schule war nie das Problem.

Das Problem war eigentlich immer nur Robert. Als meine Mutter mit einem Mann nach Hause kam, dachte ich, der würde schnell wieder verschwinden. Doch Robert blieb. Er war nett und charmant zu meiner Mutter, half ihr und tat so als mochte er mich. In ihrem Beisein verstrubbelte er mir die Haare und lachte. Er setzte sich zu mir und half mir bei den Hausaufgaben, auch wenn ich keine Hilfe gebraucht hätte. Meine Mutter war blind vor Liebe. Ich konnte, ich wollte ihr ihr Glück nicht zerstören. Doch ihr Robert hatte noch eine andere Seite, eine raue, harte Seite, die ich zu oft zu spüren bekam. Doch ich konnte darüber nicht sprechen. Selbst heute wurde mir noch übel, wenn ich daran dachte.

Das Aufhängen und Abnehmen der Wäsche war meine Aufgabe. Wir hatten im Wohnblock extra einen Trockenraum. Hätten wir nicht auch die Wäsche draussen auf einem Wäscheplatz aufhängen können, wie es in unserer alten Wohnung war?

Der Raum war kalt und steril. Es roch nach frisch gewaschener Wäsche. Ein Geruch, den ich bis heute hasse.

An einem Samstag Vormittag fing es an. Robert wollte mir helfen. Doch im Trockenraum presste er mich sofort gegen eine Wand. Er drückte meinen Kopf mit einer Hand fest gegen den kalten Beton. Ich hatte keine Chance. Wehren war unmöglich. Ich hielt die Luft an, versuchte mich aus seinem Griff zu drehen, doch er presste meinen Kopf nur noch stärker gegen die Wand. Ich hatte das Gefühl gleich zerplatzt mein Kopf wie eine reife Wassermelone. Ich hielt an diesem Gedanken fest, bis er fertig war. Dann sagte er nur „Jetzt häng endlich die verdammte Wäsche auf und dann verzieh dich zu deinen kleinen Freunden auf den Spielplatz.“

Aber ich konnte jetzt nicht zu meinen Freunden gehen, nicht in die Grauzone. Ich stieg die Treppe ganz nach oben. Vorbei an unserer Wohnungstür bis die Stufen endeten. Dort war an der Decke eine Klappe aufs Dach. Ich hockte mich darunter. Und ja, ich heulte. Was hätte ich sonst tun sollen? Rotz lief mir aus der Nase. Als ich ihn mir mit der Hand wegwischen wollte, sah ich rote Riemchenschuhe vor mir stehen. Ein dünner Arm legte sich sanft um meine Schulter und hielt mich einfach nur fest. Leise schaukelte sie mich, bis ich mich beruhigt hatte.


Schweissgebadet erwachte ich aus meinen Träumen. Musste das alles jetzt wiederkommen? Und dann sie. Sie war alles, was ich jemals gehabt hatte. Bei ihr war ich einfach nur ich. Doch was half mir das jetzt? War ich jetzt wieder nur ich? Ist man hier überhaupt jemand? Oder sind wir nur Verdammte, den Schatten geweihte?

Doch wenn meine so gut versteckten Erinnerungen wieder zum Vorschein kamen, sollte es doch auch möglich sein, sich an die letzte Zeit in Freiheit erinnern zu können.