Der Liebesbrief

Der Liebesbrief

Geliebter,

wie still es geworden ist. Ich sehnte mich so sehr nach dieser Stille, dass es mir jetzt, wo sie da ist, wie ein Traum erscheint. Die Berge schlucken, was vom Gestern übrig blieb. Sie bilden eine völlig neue Welt um mich herum. Ein sein ohne war und ohne werden.

In den vergangenen Tagen hat es unaufhörlich geschneit. Die Schneedecke liegt weich auf der Landschaft. Wie ein Seidentuch, das gerade darauf nieder schwebte. Mit einer Leichtigkeit umgibt mich eine neue Landschaft. Es kommt mir vor, als wachsen einem Flügel und man gleitet durch die klare Luft über die weißen Täler. Ja, es ist Freiheit, die ich hier oben verspüre. Freiheit, wo andere sich eingesperrt, sogar eingeengt fühlen. Wo schroffe Berge ihnen die Sicht nehmen. Und der andauernde Schneefall die Zufahrtsstraßen unpassierbar machen. Doch was wissen die schon von der Welt? Ihr Leben lang waren sie vergessen von der Welt. Sie sehnen sich nach dem Leben. Doch hält sie die Angst zurück. Und ich? Ich bin gekommen, um zu vergessen. Alles, vor allem das Leben. Nur dich nicht. Dich werde ich nie vergessen. Wie könnte ich? Waren es nicht deine Augen, in denen ich jeden Morgen eine noch tiefere Traurigkeit lesen konnte? Deine schönen schmalen Lippen, die erst das Lächeln verlernten und dann gänzlich an Farbe verloren? Doch mach dir nichts daraus. Alles hat an Farbe verloren. Und am Ende ist alles weiß. Weiß wie der Schnee.

Heute folgte ich der Spur des Wolfes. Es hat seit Jahren keinen Wolf mehr in den Wäldern gegeben. Doch nun ist er zurück. Die Menschen haben Angst. Muss ich mich fürchten? Gewiss nicht vor einem Wolf. Du hast mich vor der Einsamkeit gewarnt. Damals. Und dann war ich plötzlich allein. Allein unter unter Ihnen. Und du warst so plötzlich verschwunden, dass ich noch heute deine Schatten im Augenwinkel sehen kann. Jetzt wo es hier so still ist, kann ich dich sogar hören, wie du leise singst. Ein Kinderlied. Ich erkenne die Melodie.

Die Sonne scheint bereits auf die Bergspitzen und taucht sie in ein fließendes Gold. Die einzige Farbe, die sich die Natur erlaubt, und gleich dabei errötet. Bald wird eine stechende Dunkelheit alles verschlingen. Die Nacht löst alles auf. Selbst die Landschaft beginnt sich zu weiten. Dann bin auch ich ein Schatten. Ein schleichendes Knirschen unter den Füßen der Ängstlichen. Sie huschen von Haus zu Haus, immer in Achtsamkeit vor dem einsamen Wolf. Die Lichter, die aus den Fenstern dringen, gefrieren noch bevor sie den Boden berühren. Würden sie über die Straße streichen, was sähen sie dann? Die weit aufgerissenen Augen? Den zum Aufschrei geöffneten Mund? Im erstarrten Gesicht, den zu Frost gefrorenen Atem? Nein, sie sehen nichts, denn es hat bereits wieder begonnen zu schneien. Und Schatten sieht man nur, wenn von irgendwoher ein Licht scheint.

Ich warte die Stille ab. Dann gehe ich den Wolf suchen. Wo der Wolf ist, finde ich deinen Schatten.

Dann sind wir wieder vereint mein geliebter Mensch.