Die Protagonistin

Die Protagonistin

Dichter weisser Nebel hängt in den Bergen. Der Wald ist feucht und alle Farben wirken irgendwie schwarz. Sie, unsere Protagonistin, sitzt im Auto und fährt die kurvige Strasse entlang. Ihre Gedanken schweifen ab. Sie kennt die Strecke gut. Doch ungefährlich ist es deshalb noch lange nicht. Im Radio läuft irgendein alter Hit aus den Achtzigern. Sie summt Gedanken verloren mit. An die engen Kurven schmiegen sich auf der einen Seite die rauen Felswände an die schmale Strasse. Auf der linken Seite liegt der grosse Stausee. Ein paar magere Bäume säumen die Uferböschung. Dunst steigt von dem klaren Wasser auf. Warum das Wasser im Winter immer so viel klarer scheint, denkt sie.

In der nächsten Kurve reisst sie ihr Lenkrad herum und fährt, oder besser gesagt sie stürzt mit dem Auto direkt in den See. Und schon ist es vorbei mit unserer Protagonistin. ...


Wie oft ich das schon gedacht habe, wenn ich an diesem See vorbei fahre. Doch es ergibt einfach keinen Sinn. Warum sollte sich denn die Frau in den See stürzen? Ist sie einsam? Oder depressiv? Hat sie einen Blackout? Oder hat das alte Lied an irgendetwas in ihr gerührt?

Betrachten wir uns doch mal ihr Leben. Die Frau ist, jetzt kommts, mittel-alt, mittel-gross, Mittelstand. Sie sieht nicht gerade wie eine Filmschauspielerin aus, aber sie ist auch nicht hässlich. Sie ist durchschnitt, wie sie und ich. Ihr Alltag ist ebenfalls durchschnittlich, Mann, drei Kinder, kleines Haus mit Garten. Also was könnte diese Durchschnittsmutti dazu bringen in den See zu fahren? Sehen sie, sie wissen es auch nicht. Aber bitte, kommen sie, helfen sie mir bei der Spuren suche. Glauben sie nicht einer Autorin fällt es immer leicht sich Geschichten auszudenken. Sie sitzt oft stundenlang da und grübelt. In diesem Fall sogar schon Monate.

Ach sie meinen die Frau ist auf der, mit reifbedeckten Strasse ins Rutschen gekommen? Das könnte gut sein. Aber es wäre eine sehr langweilige Geschichte, oder nicht? Ich denke, die Frau ist mit voller Absicht in den See gefahren, und dabei fühlte sie sich für einen Moment frei und gelöst. Da müssen wir ansetzen. Irgendetwas hatte sie also belastet. Etwas war passiert. Aber was könnte das gewesen sein? Ein Liebhaber? Aber bitte, wer bringt sich deshalb gleich um? Ach, ihr Mann hatte eine Geliebte. Nein. Das wäre sicher auch kein Grund sich gleich umzubringen. Würden sie in so einer Situation nicht auch lieber Teufelchen spielen und dem Mann das Leben zur Hölle machen? Sie hätte ihn ja einfach verlassen können, ihn mit den drei Kindern allein lassen, soll der doch sehen wie er klar kommt. Mmm, und dann zieht die Geliebte ein und kümmert sich liebevoll um ihre Kinder? Stimmt, das wäre schwer zu ertragen. Selbst wenn die Frau ausgewandert wäre und nicht wüsste, ob es so weitergehen würde. Sie würde vielleicht gerade in Italien auf ihrem Balkon sitzen, die Füsse auf dem Geländer und ein Buch lesen. Sie geniesst die Leichtigkeit, die ihr neues Leben als Single ihr bietet und malt sich aus, wie der Mann zu Hause in Bergen von dreckiger Wäsche steht, um ihn herum die streitenden Kinder. Wie dann alles im Chaos versinkt. Wie er sich sein Leben zurück wünscht. So wie es ihr manchmal ging.

Doch dann sieht sie auf der Piazza eine Familie, mit Sonnenhut und Sommerfeeling. Glückliche Kinder und ein verliebtes Elternpaar. Und sie erkennt den Mann. Was für ein Reinfall. Die arme Frau würde sich doch gleich den Balkon hinunterstürzen.

Na da hätte sie wirklich auch in den See fahren können. Aber die Kinder zurück lassen? Dann doch lieber den Mann rausschmeissen.

Das ist es also nicht.

Vielleicht war sie betrunken oder stand unter Drogen? Wäre möglich. Welche Hausfrau hat nicht schon daran gedacht aus Langeweile zum Kaffee ein Likörchen, oder wenn der Kuchen oder, was auch immer besonders gut gelungen ist, ein Gläschen Sekt. Oder einfach zum Anstossen, wenn die Nachbarin zum Kaffee kommt. Auch beim Kochen, wenn man die Sosse eh mit Wein ablöscht, ein klitzekleines Gläschen. Aber deshalb wird man nicht gleich zur Alkoholikerin. Selbst ist die Frau und  fängt sich doch wieder. Man lässt es nicht zur Gewohnheit werden. Es sei denn, in der Ehe stimmt was nicht. Aber davon wollen wir mal nicht ausgehen. Und Drogen? Nein. Unsere Protagonistin lebt in einem kleinen etwas abgelegen Dorf, nicht in der Grossstadt. Es würde hier zwar wahrscheinlich niemand merken, wenn sie Hanf anbauen würde. Aber ganz ehrlich, Rosen sind schöner im Garten. Also keine Drogen.

Ich werde ihnen verraten was ich denke. Könnte es nicht sein, dass die Frau ein schreckliches Geheimnis hatte? Ja, jetzt wird es dramatisch und vielleicht auch etwas grausam.

Denn als die Polizisten das Auto mit der Toten aus dem See gefischt und unsere Protagonistin identifiziert hatten, sind sie ins Dorf zu ihrem Mann gefahren. Das schöne kleine Häuschen lag friedlich in der winterlichen Landschaft. Es war unheimlich still. Zu still.

Niemand reagierte auf das Klingeln der Beamten. Kein Geräusch. Eine Nachbarin rief vielleicht über den Gartenzaun. Da ist schon seit Tagen niemand mehr zu sehen. Wahrscheinlich im Urlaub, das Auto fehlt ja. Aber ihr hat man natürlich wieder einmal nichts gesagt. Neugierig bleibt sie am Zaun stehen.

Im Urlaub waren sie sicher nicht. Das wusste die Polizei. Die Tür wurde aufgebrochen. Und wie wir schon alle vermutet hatten, lagen der Mann und die Kinder tot im Haus verteilt. Über die Einzelheiten werde ich mich hier nicht auslassen. Vielleicht irgendwann einmal an einer anderen Stelle. Gesagt sei nur, dass es kein schöner Anblick war. Natürlich war überall Blut. Und ohne Zweifel war es auch Mord. Aber wer hier wen umgebracht hatte, war nicht gleich ersichtlich. Die Polizei tat ihre Arbeit. Sie waren irgendwie auch froh, den Kindern nicht die Nachricht über den Tod ihrer Mutter überbringen zu müssen. Allerdings war das hier sicher nicht das bessere Schicksal gewesen.

Klar war, dass von den Kinder keines der Mörder war. Ob der Mann nun die Kinder umgebracht hat, war nicht auszuschliessen, aber auch nicht, dass es jemand ganz anderes war. Jemand der vielleicht sogar noch da draussen herum lief.

Hatte die Frau ihre Familie so gefunden und ist deshalb in den See gefahren? War sie dem Mörder entkommen? Oder hatte sie vielleicht etwas mit dem Tod ihrer Familie zu tun?

Warten wir es ab. Irgendwann fällt mir schon noch die Geschichte ein.