Die Sonntagmorgen-Affaire
Das hatte Carlos van Eiken noch gefehlt. Gerade hatte sein Telefon geklingelt. Es war der Polizeichef persönlich.
„Eiken, es handelt sich um eine sehr brisante Angelegenheit. Ich erwarte sie umgehend vor Ort. Bitte behandeln sie das Vorkommnis vertraulich.“ Und schon hatte er wieder aufgelegt. Carlos wollte gerade in Ruhe seinen Kaffee trinken und in der Sonntagszeitung stöbern. Aber wenn der Polizeichef persönlich anruft, muss es dringend sein. Eine heikle Angelegenheit. Carlos überlegte. Er strich sich über sein raues Kinn. Wenn er zum Polizeichef muss, dann natürlich nur glattrasiert. Also kippte er hastig den schwarzen Kaffee runter und ging ins Badezimmer. Eine kurze Morgentoilette musste reichen. Noch während er sich die Zähne putzte, hüpfte er auf einem Bein durchs Bad und aus seiner Pyjamahose.
40 Minuten später traf er an der Villa des Polizeichefs ein.
„Eiken, die Sache ist von oberster Priorität. Bitte behandeln sie die Angelegenheit sensibel. Meine Frau und meine beiden Töchter sind darin verstrickt. Ich halte sie sogar für verdächtig. Ich muss ihnen nicht sagen, dass das hier streng vertraulich ist.“ Der schon früh ergraute Polizeichef ging, während er Carlos einen kurzen Überblick verschaffte, zum Haus. Van Eiken folgte dem hageren Mann, der Sonntagmorgen bereits im Anzug auftrat. Oder hatte er sich extra umgezogen. Aber das würde nicht zum Chef passen. Nichts wurde an einem Tatort verändert, nicht einmal die Kleidung, auch wenn diese unangemessen gewesen wäre. Sogar wenn es sich um den Polizeichef persönlich handelt.
Carlos betrat den Tatort. „Ist etwas verändert wurden?“, fragte er routinemässig. Er ging vorsichtig über den hellen Parkettfussboden durchs Zimmer und nahm alles in Augenschein. Der erste Eindruck führt oft auf die richtige Spur.
„Van Eiken, was denken sie von mir? Natürlich ist alles so, wie es war. Wir haben nichts mehr angerührt. Alles ist genau so, wie es beim Frühstück war. Sehen sie, sogar mein hartgekochtes Ei steht noch da. Ich hatte gerade Salz darauf gestreut. Dort steht der Salzstreuer.“
Der etwas korpulente Kommissar ging langsam zum Tisch. „Sie essen Marmelade zum Frühstück?“, fragte er.
„Gelegentlich.“, antwortete der Chef.
„Ich verstehe.“, van Eiken nickte. „Und wo ist ihre Familie?“ Carlos sah den Polizeichef streng an. In diesem Moment musste er ihn behandeln, wie jeden anderen bei einer Ermittlung. Und wie es aussah, könnte der Polizeichef selbst unter Verdacht geraten. Also nur keine Fehler jetzt. Schön nach Schema arbeiten.
„Meine Frau ist mit den Mädchen ins Wohnzimmer gegangen. Sie können sie dort befragen, wenn sie den Tatort genau inspiziert haben. Sie verstehen sicher, dass ich in diesem Fall die Jungs von der Spusi nicht hier haben will. Sie sind also auf sich allein gestellt.“, sagte der Polizeichef und ging ins Wohnzimmer. „Ich warte dann auf sie.“
Carlos brummte kurz, als Zeichen, dass er verstanden hatte. Dann machte er sich auf Spuren suche. Er fotografierte den Frühstückstisch, die einzelnen Plätze, hockte sich neben die Stühle, prüfte die Perspektive und die Lage zum Brotkorb. Besah sich Messer und Brettchen genau. Er zählte sogar die Krümel an jedem Platz. Auf seinem Notizblock vermerkte er, welche Marmeladen offen waren, welche geschlossen und wie viel Scheiben auf dem Wurstteller waren. Dann besah er sich den Brotkorb noch einmal ganz genau und ging schliesslich ins Wohnzimmer.
Hübsch wohnte der Chef, dachte er. Hier könnte es ihm auch gefallen. Schön hell und grosszügig. Doch zu gross für einen alleinstehenden Mann. Wenn man natürlich so eine Villa besitzt, kommen Frau und Kinder, wie von selbst.
Im Wohnzimmer sass die Familie auf der Polstergarnitur. Die jüngste Tochter, sie war etwa 7 Jahre alt, sass neben der Mutter und drückte sich an ihre Brust. Sie wirkte verängstigt. Die Ältere sass, lässig mit den Beinen über der Lehne baumelnd, quer auf dem Sessel. Sein Chef ging nervös auf und ab und rieb sich die Hände.
„Könnte ich mit ihnen allein sprechen?“, bat er ihn. Sie gingen in die Küche. „Also erzählen sie mir was vorgefallen ist.“
„Wir sassen alle friedlich zusammen. Ich lass in der Sonntagszeitung, meine Frau kümmerte sich um die Kinder. Gerade wollte ich mein Frühstücksei essen. Wissen sie, ich esse mein Ei stets zum Schluss. Mit dem letzten Schluck Kaffee.“
„Wie viel Brötchen hatten sie zu diesem Zeitpunkt gegessen?“
„Eines. Eine Hälfte mit Marmelade, wie sie schon festgestellt haben und die zweite Hälfte mit Schinken.“
„Wie viel Scheiben Schinken?“, fragte Carlos und machte sich Notizen. Der Polizeichef überlegte. „Zwei. Es waren zwei.“
„Aha. Gut. Und dann haben sie ihr Ei geschält?“, forderte der Kommissar den Polizeichef auf weiter zu erzählen.
„Ja. Wie gesagt, ich esse das Ei immer am Schluss. Aber dazu bin ich ja dann nicht mehr gekommen. Meine älteste Tochter wollte sich gerade noch ein Brötchen nehmen, da fragte meine Frau, ob alle ihr zweites Brötchen gehabt haben. Denn wir haben immer für jeden zwei Brötchen im Korb. Und jetzt waren eben noch zwei darin. Aber meine Älteste hatte bereits zwei Brötchen gegessen. Das wäre jetzt auch nicht so schlimm gewesen, wenn nicht auch meine Frau und meine jüngste Tochter jeweils auf ein weiteres Brötchen bestanden hätten.“
„Also wenn ich sie richtig verstehe, haben sie ein Brötchen gegessen. Mit Marmelade und zwei Scheiben Schinken?“ Carlos sah auf seine Notizen. „Und sie hätten noch ein zweites essen können, das aber nun mit Sicherheit eines der beiden im Korb war?“
„Genau. Allerdings konnten wir nicht klären, wem das andere gehörte.“
„Es muss also noch jemand am Tisch gewesen sein, der nur ein Brötchen gegessen hatte. Ist das richtig.“ ,fragte van Eiken und bewies damit sein analytisches Gespür.
„Van Eiken, was ist passiert?“
„Ich kann mit 100%iger Sicherheit sagen, dass sie als Verdächtiger ausscheiden. Sie haben auf jeden Fall mindestens ein Brötchen gegessen. Ihr Messer weist Spuren von Butter und roter Marmelade, wahrscheinlich Typ Erdbeere, auf. Des Weiteren habe ich Fettrückstände auf dem Messer und ihrem Brettchen feststellen können. Ihnen gehört das zweite Brötchen auf gar keinen Fall.“, beendete van Eiken die Analyse. Der Polizeichef atmete erleichtert auf. Auch Carlos ist froh, seinen Chef aus dem Kreis der Verdächtigen streichen zu können.
„Ich werde jetzt ihre Familie befragen, wenn das in Ordnung ist.“ Carlos ging zurück ins Wohnzimmer. Mittlerweile hatte sich die Tochter beruhigt. Carlos entschied sich zuerst die älteste Tochter zu befragen.
„Du hattest also schon ein Brötchen gegessen?“, tastete er sich an die Pubertierende heran.
„Nö. Zwei. Ich hatte genau zwei.“ Und sie hielt ihm provokativ zwei Finger entgegen. Der Polizeichef hüstelte im Hintergrund.
„Okay, du hattest zwei Brötchen. Was hattest du denn genau gegessen? Kannst du dich daran erinnern?“
Die Jugendliche überlegte und drehte verträumt ihren Kaugummi um den Zeigefinger. „Honig, Marmelade, nochmal Marmelade und dann … nochmal Honig. Ja genau. Ich hatte mit Honig begonnen und mit Honig geendet und dazwischen Marmelade.“
„Und wo ist dein Platz am Tisch?“, fragte Carlos. Sie beschrieb den Platz und ihre Aussicht auf den Garten. Dann wie sie die Brötchen genommen hatte und es langweilig fand, dass es sonntags immer Brötchen gab.
„Und doch wolltest du ein weiteres Brötchen essen?“, fragte der Kommissar. Sie zuckte nur mit den Schultern und sagte schliesslich, „Ich hatte eben noch Hunger.“
„Könnte es nicht auch sein, dass du nur ein Brötchen gegessen hast, mit Honig und Marmelade und dir nur vorgestellt hast, das zweite Brötchen eben in umgekehrter Reihenfolge zu essen?“
„Nö.“ Mehr sagte sie nicht. Das Gespräch war beendet. Carlos wandte sich an die Frau des Polizeichefs. Er warf einen verstohlenen Blick zum Chef, doch dann begann er das Verhör.
„Darf ich fragen, was sie gegessen haben?“, fragte er ganz Gentleman.
„Natürlich. Ich hatte ein Brötchen mit Butter, zusammengeklappt dazu zwei Röllchen Schinken. Dann ein Brötchen mit Marmelade. Beide Hälften.“, sagte sie distanziert.
„Und sie sind sich ganz sicher, das es nicht nur ein Brötchen gewesen war, eine Hälfte mit Butter und Schinkenröllchen und die andere Hälfte mit Marmelade?“
„Ja!“, warf sie ihm entgegen und drehte sich ihrer jüngeren Tochter zu. Sie tätschelte dem Kind den Kopf.
„Was ist mit dir?“, wollte Carlos von dieser wissen. Kinder zu befragen, ist eine heikle Sachen und er war dafür nicht gerade prädestiniert. Der blonde Lockenkopf drehte sich mit grossen blauen Augen ihm zu.
„Was hast du denn heute morgen gegessen? Weisst du das noch?“ Carlos kniete sich vor das Kind, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein. Seine Stimme war weich und beruhigend. Zumindest hoffte er, das er diesen Eindruck machte.
„Ei.“, sagte eine leise piepsige Stimme.
„Ei. Und noch was?“, Carlos nickte aufmunternd.
„Brötchen.“
„Wie viele?“, fragte Carlos. Doch so einfach war das nicht. Die Kleine sah ihn nur an.
„Was hattest du denn auf deinen Brötchen?“, wollte er wissen.
„Honig, Honig, Honig und Honig.“
„Oh, so viel Honig. Da kann man doch schon durcheinander kommen, wie viel das war.“, stellte er fest.
Doch die Kleine schüttelte energisch den Kopf. „Honig, Honig, Honig, Honig.“, sagte sie noch einmal mit Nachdruck.
Carlos stand auf. „Danke schön.“, sagte er und ging ins Esszimmer, wo der Polizeichef auf ihn wartete.
„Und van Eiken, was sagen sie?“
„Schwierig Chef. Sind sie Sicher, dass acht Brötchen im Korb waren, nicht neun?“
„Mit Sicherheit. Ich habe sie selbst gekauft. Ich kaufe immer acht Brötchen.“
„Und der Bäcker hat ihnen nicht vielleicht heute ein Brötchen mehr in die Tüte gemacht. Vielleicht sogar versehentlich? Haben sie nachgezählt?“
„Van Eiken, was unterstellen sie mir? Bestechlichkeit?“
Carlos ging um den Esstisch und sah noch einmal auf die Brettchen.
„Es sind recht grosse Krümel auf dem Platz ihrer jüngsten Tochter.“, stellte er fest.
„Ja. Sie pflückt immer das Innere heraus und isst es seperat. Sie halten doch nicht das arme Ding für schuldig?“, fragte der Polizeichef fassungslos.
„Doch genau das tue ich.“, sagte Carlos. Er ging zu dem Platz mit den grossen Brotkrumen. „Ich denke mir, dass es so gewesen sein muss. Die Kleine öffnet ihr Brötchen, pflückt das Innere heraus und beschmiert es mit Honig, dann isst sie die äussere Kruste auch mit Honig. Genauso verfährt sie mit der anderen Hälfte, das Innere und das Äussere werden getrennt mit Honig gegessen. Somit kommen viermal Honig zustande und es bleibt trotzdem ein Brötchen im Korb übrig.“, fässt er zufrieden den Ablauf zusammen. „Also gehört dieses ihrer jüngsten Tochter. Sie können also beruhigt weiter frühstücken und ihr Ei geniessen. Allerdings würde ich ihnen empfehlen, sich einen frischen Kaffee zu kochen. Dieser dürfte nun kalt sein.“
Carlos verabschiedet sich von seinem Chef und freut sich darüber allein frühstücken zu können.