Ein Leben als Schnecke
Es ist noch nicht ganz hell. Doch nehmen die Schatten im Zimmer immer mehr Kontur an. Durch das offene Fenster dringt aufgeregtes Vogelgezwitscher. Unweigerlich beginnt der neue Tag. Nach dem er lange an die holzvertäfelte Decke gestarrt hatte, drehte sich Erwin langsam auf die Seite. Es war Zeit aufzustehen. Doch noch wusste er nicht genau wie.
Er lag auf seinem rechten Arm. Die Beine leicht angewinkelt blickte er über die Bettkante. Wenn man es sich genau überlegte, ist es ganz schön hoch, dachte er. Sein Blick schweifte durch das Schlafzimmer. Das Nachttischchen stand gleich neben seinem Kopf. Doch schien es jetzt sehr groß, wo er es aus dieser Perspektive betrachtete. Dann der Stuhl, auf dem ordentlich seine Hose lag, das Hemd hing über der Lehne und die Krawatte lag auch bereit. Eigentlich konnte der Tag auch für ihn beginnen. Er brauchte nur aufstehen. Das Fenster, durch das noch immer ein Vogelkonzert zu ihm hinein drang, war an der gegenüberliegenden Seite. Der blaue Nachthimmel war bereits dem hellen Grau des Morgens gewichen. Die Vögel lockten ihn nun frech aus seinem Bett. Er ließ den Kopf über die Bettkante hängen und schob sich mit den Beinen und seinem Körper raupenartig über die Kante. Der Aufprall tat weniger weh als er gedacht hatte. Doch es war definitiv nicht die beste Art aufzustehen. Er kroch über den rotbraunen Teppich zum Stuhl. Doch schon ein Blick hinauf verriet ihm, dass er heute nicht wie gewohnt in Hemd und Hose zu Arbeit gehen würde. Unerreichbar waren seine Sachen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als in seinem gestreiften Schlafanzug den Tag zu verbringen.
Die Arme fest an den Körper gepresst bewegte er sich langsam über den Teppich, dabei stieß er sich mit den Beinen vorwärts. Das Zusammenspiel vom Beinen und Oberkörper faszinierte ihn. Den Oberkörper fest mit dem Boden verbunden hob er Becken und Beine an und zog diese näher an den Körper. Dann setzte er die Füße ab, löste seinen Rumpf vom Boden und schob sich vorwärts bis die Beine vollständig zum liegen kamen. Zusammenziehen, abstoßen, zusammenziehen, abstoßen. Dieser stete Rhythmus, brachte ihn bis in die Küche. Doch waren Tisch und Kühlschrank unerreichbare Ziele. Was sollte er nun frühstücken? Er blickte sich in der Küche um. Unter der Bank stand die Kartoffelkiste. Erwin kroch darauf zu und nagte an der dreckigen Schale einer Knolle. Der erdige Geschmack der Kartoffel erinnerte ihn an seine Kindheit. Doch zum Frühstück war ihm dieser Geschmack nicht so recht. Er sah sich weiter um. Irgendwo muss es doch noch etwas anderes Essbares geben. Sein Blick blieb an der großen Pflanze hänge. Sie stand am Boden und reichte bis zum Fenster hinauf. Ob sie giftig war? Er wusste es nicht. Also durfte er nur einen kleinen Bissen kosten. Klebriger Saft quoll aus der angenagten Stelle. Igitt, war das scheußlich. Er würde das Frühstück verschieben und nur einen Schluck Wasser aus dem Untersetzter der Pflanze trinken. Dann machte er sich auf den mühsamen Weg ins Büro. Er kroch Stufe für Stufe die Treppe hinunter. Dabei musste er sich so sehr konzentrieren, dass er nicht bemerkte, wie hinter ihm die Nachbarn auf ihrem Weg zur Arbeit stehen blieben und beobachteten, wie er, Erwin Muluschki, im Schlafanzug die Treppe abwärts kroch. Niemand lachte. Ja niemand sagte auch nur ein Wort. Alle schwiegen und hielten fast hörbar den Atem an. Vielleicht hatten sie Angst, dass beim kleinsten Geräusch Erwin abrutschen konnte und dann kopfüber die Treppe hinunterstürzen würde. Und wer sollte dann das ganze Blut aufwischen? Nein das wollte niemand. Also schritt die ganze Nachbarschaft kollektiv wie eine Prozession langsam hinter Erwin her. Dann standen sie vor der verschlossenen Tür. Erwin wand sich an der Tür nach oben, aber er konnte die Türklinke nicht erreichen. Da schob sich ein Nachbar durch die Menge und öffnete vorsichtig die Tür. So dass alle hinaustreten konnten. Sie stiegen über ihn hinweg, grüßten ein kurzes „Guten Morgen“ und schlüpften durch die Tür. Der letzte hielt die Tür noch kurz auf, damit auch Erwin sich auf seinen Weg ins Büro machen konnte.
Es war ein schöner Tag, die Sonne schien und Erwin kroch über die Bürgersteige und Fußgängerwege, über Ampelübergänge und durch Straßenunterführungen. Er beobachtete vorbeieilende Schuhe. Laut und aufgeregt klackerten die Pumps der vornehmen Damen über das Straßenpflaster. Federleicht sprangen die Turnschuhe der Jogger an ihm vorbei und ließen den Boden leicht beben. Erwin sog den Geruch der erwachenden Stadt ein. Er kroch unter den Autoabgasen der im Berufsverkehr feststeckenden Autos einfach hindurch. Hier ganz flach über dem Boden roch er den Asphalt, der sich langsam und leise schmatzend erwärmte. Duftwolken vom Aftershave der Glattrasierten sanken schwer zu Boden. Und dazwischen roch es nach frischem Kaffee und gebackenem Brot. Das war der Morgenduft der Stadt. Zwischen Lärm und Hektik hat er ihn nie wahrgenommen. Nun knurrte sein Magen. Er hatte den Kaffeeduft registriert und hoffte auf Frühstück. Aber noch war Erwin nicht am Ziel. Er musste noch durch den Stadtpark und dann zwischen den Büromeilern hindurchkriechen. Erst dann war er im Büro. Vielleicht konnte er dort etwas zu Essen auftreiben.
Im Stadtpark wuchsen kleine Walderdbeeren im Schatten der Sträucher. Er hatte sie noch nie bemerkt, da sie so versteckt wuchsen, dass nicht einmal Kinder sie entdeckt hätten. Tautropfen hingen an den Beeren und ergänzten sein fruchtiges Frühstück mit frischen Wasser. Erwin war glücklich. In diesem Moment war er einfach nur glücklich. Das grüne Laub der Bäume spendete lichten Schatten und ein kühler Wind kroch mit ihm über den Waldboden. Doch er konnte nicht den ganzen Tag im Park bleiben. Er kroch weiter auf seinem nun doch sehr langen Weg ins Büro. Nie war ihm diese Dimension aufgefallen, aber auch nie die Schönheit des Weges, baumgesäumte Wege, Vorgärten, der Park, das Vogelzwitschern. Der Weg zum Büro war ein Abenteuer, zumindest heute.
Im Büro wartete die tägliche stumpfsinnige Arbeit auf ihn. Er kroch von Aktenschrank zu Aktenschrank, und wusste nicht recht wie er seine Arbeit heute erledigen sollte. Wo doch sein Tag so abenteuerlich begonnen hatte. Der Sturz aus dem Bett, die bittere Grünpflanze, der Treppenabstieg und der herrliche Weg durch den Park. Und nun nichts als trockener Staub. Alte knochige Aktenordner. Graue Wände, verschlossene Fenster. Doch irgendwie überstand er diese Tristesse. In der Pause kroch er dann zur Kantine, doch hier übersah man ihn völlig. Alle Kollegen machten einen großen Schritt über ihn und gingen geschäftig zu ihren Plätzen.
Also musste er sich auf den beschwerlichen Weg zum Bäcker auf der anderen Straßenseite machen. Ohne Ampel ist die Straßenüberquerung sehr gefährlich, wenn man sich nur kriechend fortbewegt. Quietschend kamen die heranbrausenden Autos zum stehen. Überraschte Gesichter musterten den Mann im braun gestreiften Pyjama, der sich mühevoll über den rauen Asphalt schob. Auf der anderen Seite strahlte ihn die Verkäuferin in der Bäckerei an. Sie steckte ihm ein Rosinenbrötchen in die Hemdtasche des Schlafanzugs und zwinkerte ihm freundlich zu. Dann dieselbe Prozedur zurück. Rauer Asphalt, Schiebetür, Aufzug. In seinem Büro hatte er es sich auf dem Schreibtisch bequem gemacht. Er nagte an dem Rosinenbrötchen und blickte dabei durch das staubige Fenster in den nun blauen Himmel. Wolkenfetzen schwebten vorüber und Flugzeuge malten filigrane Muster in das Himmelblau.
Der Tag war noch lang. Erwin klemmte seine große Knollnase in längst vergessenen Akten und knabberte hier und da an Ablehnungsbescheiden. Doch als er endlich Feierabend machen konnte, kroch er voller Energie und Tatendrang durch die großen Schiebetüren in die Freiheit hinaus. Seine Kollegen schlichen alle im gleichen müden Trott an ihm vorbei. Sie achteten nicht auf kriechende Kollegen oder auf ihre Umwelt. Raus aus dem Bürogebäude stiegen sie in überfüllte lärmende Busse und fielen zu Hause in einen komatösen Wachschlaf.
Erwin kroch auf seinem Heimweg beschwingt durch das warme Gras des Stadtparks. Die Bürgersteige und Fußwege der Stadt waren nun staubig vom Tag. Doch alles war angenehm warm und roch lebendig. Seine Nase füllte sich mit Geschichten von Menschen, die diesen Weg genommen hatten. Hier und da hatten Hunde diese Menschen begleitet, auch das stieg Erwin in die Nase. Aber nicht nur Hundekot säumte seinen Weg. Obwohl dieser selbst zwar nicht hübsch anzusehen war, die bunten Schmetterlinge, die sich darauf niederließen waren es alle Male. Auf seinem Weg kroch er auch über frische Straußenkreidezeichnungen. Kinder hatten den Tag über hier gespielt und ihre Träume aufgemalt. Nun haftete ein Teil dieser Träume an ihm. Er kroch von Bild zu Bild, wirbelte Kreidepartikel auf und verwischte die Bilder miteinander. So dass eine große bunte Traumwelt entstand. Erwin schrie innerlich vor Freude. Was war das für ein großartiger Tag gewesen?
Doch als er vor der Haustür ankam, die verschlossen war, fiel ihm auch die steile Treppe ein. Er ist am Morgen ganz gut hinunter gekommen, aber wie sollte er all die Stufen wieder nach oben kommen? Im Büro gab es Aufzüge, aber hier? Dann erinnerte er sich an den Wildwuchs neben dem Haus. Er kroch um die Häuserecke in den kleinen verwilderten Garten, der an das Haus grenzte. Wer hier einmal einen Garten angelegt hatte, musste sich schon sehr lange nicht mehr darum gekümmert habe. Es gab kein Gemüse, keine Beete. Nur Sträucher, hohes Gras und wilde Blumen. Er würde hier draußen schlafen. Eingerollt unter den großen Blätter einer Stockrose und den Vögeln lauschen, die ihm eine gute Nacht wünschten.
Noch war es kühl. Sein Schlafanzug war feucht von der Nacht. Er roch das Gras und die Erde. Obwohl er fror, war ihm wohlig. So aufzuwachen, im Garten unter den Blättern, war ein gutes Gefühl. Er reckte sich. Kroch unter den Stockrosen hervor. Dann suchte er im Garten nach einem tauglichem Frühstück. Der morgendliche Tau hing an den Blättern Erwin begann seine Morgentoilette. Rieb sich am feuchten Gras und erfrischte sich damit. Dann leckte er Tautropfen von den zusammengeklappten Kleeblättern und vom Löwenzahn. Aus den gelben Blüten schmeckte der Tau aromatisch und süßlich. In einer Ecke des Gartens entdeckte er alte Stachelbeersträucher und ein paar Kräuter standen duftend zwischen den wuchernden Gräsern. Er labte sich an den Früchten und genoss den herben Geschmack des Salbei. Dann kroch er aus dem Garten. Er überwand die Straßen, sein feuchter Schlafanzug hinterließ dabei eine glitzernde Spur. Bald erreichte er den Stadtpark. Den ganzen Tag verbrachte er unter den Sträuchern und im hohen Gras. Er naschte Walderdbeeren und beobachtete die Wolken, die über den blauen Himmel zogen und ihm Geschichten erzählten. Tief atmete er den Geruch ein. Er fühlte sich plötzlich frei und gelöst. Alle Beklemmung fiel von ihm ab. Seine seit Jahren eingeschnürte Brust öffnete sich weit und Sauerstoff strömte in seinen Körper und belebte längst abgestorbene Regionen.
Am Abend kroch er nach Hause. Er lag vor der Haustür, reckte seinen Kopf zu den Fenstern seiner komfortablen Wohnung. Doch vor seinem inneren Auge sah er die steile Treppe, die hinaufführte. Dann schweifte sein Blick zu dem Garten, in dem er die letzte Nacht verbracht hatte. Es war ein langer Tag gewesen. Seine Abenteuer haben ihn müde gemacht. Er fragte sich, ob er für so ein abenteuerliches Leben gemacht war. Es war Zeit schlafen zu gehen. Guten Nacht, zwitscherten ihm die Vögel zu.
Plötzlich drang Licht in das dunkle Zimmer. Der Mond schien auf das Nachttischchen. Erwin lag in seinem Bett und atmete ruhig und tief. Die Schnecke beobachtete ihn noch eine Weile und dachte über ihren seltsamen Traum nach. Ein Mensch zu sein, wäre ihr dann doch viel zu anstrengend. Sie kroch durch das offene Fenster in den Blumenkasten und naschte von den Geranien, die im fahlen Mondlicht seltsam warm leuchteten.