Einzug der Wichtel

Einzug der Wichtel

Heute ist ein ganz besonderer Tag. Melchior spürt es in seinen Knochen. Er brummt zufrieden. Dann schlägt er die Augen auf. Noch sieht er nichts. Denn es ist dunkel. Ganz still ist er. Er lauscht. Wenn man nämlich ganz, ganz still ist. So still, dass man die Schneeflocken hören kann. Wie sie leise nieder schweben. Wie sie kleine Schneehauben auf die Bäume bauen. Ja, so still muss es sein. Dann hört man das leise Knacken. Das Trippeln. Das Tuscheln. Das Wispern.

Hannes und Jannes und Fipps und Flipps sind unterwegs. Das hört Melchior ganz genau. Seine grauen Augen sind trüb. Sehen tut er mit dem Herzen. Sagt er, wenn Kathrinchen an seinem Lehnstuhl steht. Ihm sanft über die alten, faltigen Hände streicht.

Sie wispert ihm gern Geheimnisse ins Ohr. Dort sind sie gut aufgehoben. Die vielen Haare, die aus seinen grossen Ohren wachsen, halten alle Geheimnisse verborgen.

«Lass den Grossvater schlafen», sagt ihre Mutter.

Kathrinchen weiss aber, dass der Grossvater nicht schläft. Sein Lächeln zuckt. Das ist ein gutes Zeichen, denn dann ist er wach. Er passt auf mich auf, das weiss Kathrinchen.

Sie klettert auf seinen Schoss. Der Grossvater ist schon sehr alt. Wie die alte Eiche am Waldrand. Er sitzt im Lehnstuhl und regt sich nicht. Aber er lächelt, dann und wann.

Nur Kathrinchen sieht das. Sie hat immer ein Auge auf den Grossvater.

Die Anderen jagen durch den Tag und durch die Stube. Sie haben keine Zeit, kein Auge, kein Ohr für den Grossvater.

Er flüstert. Manchmal, wenn Kathrinchen auf seinem Schoss sitzt, flüstert er ihr Geschichten zu.

Heute ist ein besonderer Tag, das weiss nicht nur Melchior. Das weiss auch Kathrinchen. Sie ist sehr früh aufgestanden. Ist zum Grossvater ins Bett gehuscht und lauscht mit ihm in den dunklen Morgen.

Still muss sie sein. Ganz still.

Es ist der vierte Dezember. Am vierten Dezember ziehen die Wichtel in die Stuben und Häuser. Sie kommen auf winzigen Socken geschlichen. Tragen all ihr Hab und Gut mit sich hinein. Zwängen sich in Mäuselöcher, hinter Bücherregale und Anrichten. Sie inspizieren das Haus. Schmücken in der ersten Nacht den Küchentisch mit Barbarazweigen, die sie aus dem Garten mitgebracht haben.

Im Sommer leben sie draussen, bei den Tieren, den Vögeln, dem Feldhamster und den Mäusen.

In den Herbststürmen packen sie ihre Sachen zusammen, warten dass der Winter kommt. Erzählen sich Geschichten und singen Lieder.

Dann kommt der Frost und der Schnee. Am Barbaratag ziehen sie dann in die warmen Stuben. Die Vögel sind in den Süden geflogen. Der Feldhamster schläft tief in der Erde und die Mäusefamilie ist längst in den Stall umgezogen.

Nun sind sie zurück, Hannes und Jannes und Fipps und Flipps.

Kathrinchen legt am Abend Kekskrümmel in eine kleine Schale und ein Schälchen Milch stellt sie bereit. Alles um die Wichtel Willkommen zu heissen.

Ausser Kathrinchen und dem Grossvater glaubt niemand im Haus an die Wichtel. Doch das macht nichts. Melchior und Kathrinchen wissen, dass sie da sind. Dass sie nun den ganzen Winter auf sie aufpassen werden. Dass sie alles Übel fernhalten und etwas Schabernack treiben werden.

Sie freuen sich schon auf die Zeit mit ihnen. Jeder versteckte Strumpf, die vertauschten Salz- und Zuckerbehälter, die klemmenden Türen, das Wispern in den Ritzen, all das macht den langen, dunklen Winter erträglich. Wenn man nur im Haus sitzt. Wenn Schneestürme umher pfeifen. Wenn der Frost ans Fenster klopft.

Melchior erzählt Kathrinchen, wie er als Kind sie einmal gesehen hat, den Hannes und Jannes, den Fipps und Flipps. Kleine Spuren hatten sie auf dem Tisch hinterlassen.

Nach dem Plätzchenbacken, hatte Melchiors Mutter das Mehl nicht weggewischt. Sie hat es einfach vergessen. Am Morgen waren da die Spuren. Melchior, grad so alt wie Kathrinchen jetzt, folgte den Spuren bis zur grossen Feuerholzkiste. Er lauschte und hörte das leise Wispern und Flüstern.

Vorsichtig spähte er dahinter und schwupps waren sie auch schon verschwunden, die Zipfelmützen von Hannes und Jannes und Fipps und Flipps. Doch er hatte sie gesehen. Einmal. Ganz kurz.

«Heute Nacht streue ich Mehl aus», versprach Kathrinchen.

«Und morgen erzähle ich dir, wie sie aussehen, der Hannes und Jannes, der Fipps und Flipps und ob sie noch immer die Zipfelmützen tragen.»

Melchior lächelt sanft. Und Kathrinchen streicht ihm über die alten, faltigen Hände.