In einer stürmischen Nacht (2)

In einer stürmischen Nacht (2)

Kahle Zweige kratzten unheilvoll am Dach der Wirtschaft. Der Wind heulte in die tiefe Nacht hinein und von den Bergen hallte die Antwort der Wölfe zurück. Durch diese stürmische Nacht hatte sich ein Mann, Jens Amundsen, ins Wirtshaus von Marienberg gekämpft. Er hatte sich zu der kleinen Gesellschaft gesetzt, diewegen desSturmeshier fest sass. Kurze Zeit später war er hustend und nach Luft ringend zusammengebrochen.

Nun beruhigte sich der böige Wind langsam und als die Strassenlaternen zu leuchten begannen, kehrte der Strom in die Häuser von Marienberg zurück. Auch im Gasthaus flackerten die Lampen auf und erhellten die erschrockenen Gesichter von Dorfkaplan Erwin Friedlich, Bauingenieur Michaelis, Yogatrainerin Yasmin Badu, Grundschullehrerin Sophie Battler und dem Ratssekretär Daniel Cast. Und das totenbleiche Gesicht des erst kürzlich verstorbenen Jens Amundsen.

Sechs Personen hatten sich in dieser stürmischen Nacht hier zusammen gefunden. Fünf lebten noch. Der arme Jens Amundsen war jedoch tot auf seinem Stuhl zusammen gesunken. Die anderen standen angewidert um ihn herum, als der Wirt fünf Gläser mit Portwein brachte.

Die Grundschullehrerin wandte sich ab. Sie ging zu den Fenstern und schniefte laut in ihr Taschentuch. Aber sie lies die anderen nicht aus den Augen. Sie beobachtete in der Spiegelung der dunklen Fenster die Restlichen im Raum, als plötzlich ein schriller Schrei alle zusammenfahren liess.

„Da ein Messer.“ , schrie aufgebracht Yasmin Baru. Die Yogalehrerin deutete mit zittriger Hand auf den toten Mann. Ihr Gesicht war hässlich verzerrt.

„Jemand hat ihn umgebracht.“, rief sie.

„Warum sollte ihn jemand umbringen, wo er doch erstickt ist? Wir haben es doch alle gesehen. Sie doch auch.“, stellte Michaelis der Bauingenieur mit seiner trockenen, fast heiteren Art fest.

„Herr Kaplan. Was meinen sie?“, fragte er den Dorfkaplan Erwin Friedlich. Der erschrak übertrieben aus seiner gespieltenAndacht.

„Bitte? Was? Ein Mord? Nein das glaube ich nicht. Warum sollte denn jemand den armen Mann umbringen?“, antwortete dieser unsicher. Er zog die Augenbrauen zusammen und beugte sich über Amundsen.

„Nicht irgendjemand, Herr Kaplan. Wenn, dann war es ja wohl einer von uns.“, stellte nun der bis jetzt so schweigsame Ratssekretär fest. Friedlich zuckte zusammen und wich zurück.

„Aber mein lieber Cast. Jetzt werden sie nicht polemisch. Wer sollte denn den Mann umbringen wollen?“, fragte Michaelis.

„So hat er das doch sicher nicht gemeint.“ Die Grundschullehrerin war wieder zu den anderen getreten und tätschelte beruhigend Daniel Cast den Arm.

„Aber der Mann war doch schon so gut wie tot. Warum dann noch ein Messer in die Rippen stechen?“ Michaelis ging im Raum auf und ab. „Wenn ihn was umgebracht hat, dann war es wohl eher das Fondue.“ Alle sahen in den grossen Käsetopf in der Mitte des Tisches. Wie dort ganz unschuldig im Käse Blasen aufstiegen und zerplatzten.

„Vielleicht ist es ja vergiftet.“, sagte Sophie Battler erschrocken und griff sich an die Brust. Sie atmete plötzlich schwer und ungleichmässig.

„Und hätte einen von uns treffen sollen.“, fügte Yasmin Baru leise hinzu. Sie beobachtete Sophie interessiert.

Die fünf wandten ihre Köpfe langsam zur Tür. Dort stand der Wirt. Er hatte ein Schlüsselbund in der Hand und klapperte überheblich damit.

„Sie bleiben alle hier.“, sagte er schliesslich und schloss die Tür ab. „Die Polizei hat gesagt, niemand darf den Raum verlassen.“, hörten sie seine tiefe Stimme durch die verschlossene Tür noch sagen. Dann kehrte Ruhe ein. Im Saal sahen sich alle gegenseitig abschätzend an.

„Hat er die Polizei gerufen? Hat das jemand gesehen?“ Die Grundschullehrerin ging leise zur Tür und legte ihre Hand auf die Klinke.

„Abgeschlossen.“ Nun stand das Entsetzen in ihrem Gesicht.“

„Aber wie ich schon gesagt haben, niemand hatte einen Grund den Mann zu töten, selbst wenn er einen Grund gehabt hätte, er war doch eh schon fast tot. Sehen sie doch in seinen Hals, da steckt sicher noch das Stück Brot. Es muss sich verkantet haben.“, sagte Michaelis. Doch niemand näherte sich dem Toten. Alle wichen sie zurück und versammelten sich am anderen Ende des Raumes.

In der Stille dachte jeder an seine eigenen Begebenheiten mit Amundsen. Als er im Dorf die Leute verrückt gemacht hatte mit seinen Schauergeschichten über das Wolfsrudel, dass hier sein Unwesen trieb. Wie dann die Feriengäste ausblieben und der Neubau des Mehrfamilienhauses gestoppt werden musste, weil es keine Mieter mehr dafür gab. Oder wie er nachts durch die Strassen schlich und wie ein Wolf heulte, so dass sich die Alten nicht mehr hinaus und in die Kirche trauten. Er machte den Kindern auf dem Pausenplatz Angst. Wild gestikulierend sprang er über den Zaun und auf das Karussell, da liefen die Kinder schreiend auseinander.

Er war ein komischer Kerl. Er wohnte einsam am Dorfrand. Zurückgeblieben geistig, aber nicht bösartig, so beschrieben ihn die Dorfbewohner. Doch seit einiger Zeit war er nicht mehr unauffällig. Er wirkte verstört, aufgebracht. Er irrte umher und jagte allen Angst ein. Doch deshalb würde man ihn doch sicher nicht umbringen.

„Gehörte ihm nicht das grosse Stück Land oberhalb der Dorfwiese?“, stellte der Ratssekretär fest.

„Seiner Mutter gehörte einiges an Land im Dorf. Wenn ich mich nicht irre auch das Grundstück, wo die Schule steht und ein oder zwei Liegeschaften daneben.“, sagte Kaplan Friedlich nachdenklich. Er ging ein paar Schritte auf Amundsen zu. „Er hatte sicher auch einiges an Vermögen geerbt, als seine Mutter starb. Sie war eine fromme Frau. Leider hat sie nie weiter über den Tellerrand hinaus geschaut, sonst hätte sie für ihren Sohn vorgesorgt, im Falle ihres Todes.“

„Hatte er keine Familie?“, fragte Yasmin Badu und kniete sich neben den Toten. „Er sieht nicht dumm aus.“

„Aber meine Gute, wie soll den ein Dummer aussehen? Er ist tot und sieht tot aus. Und Familie? Nein. Sie meinen eine Frau? Nein. Er hatte eine Bruder, doch der ist bei einem Unfall ums Leben gekommen.“ Der Bauingenieur war amüsiert über die Naivität der Yogalehrerin. Wie sie da neben dem toten Amundsen hockte und ihn fast anhimmelte.

„Aber was sagen wir nun der Polizei?“, fragte Sophie Battler. „Der Mann ist in unserer Mitte gestorben. Niemand anderer war hier gewesen.“ Sie sah von einem zum anderen.

„Aber er ist ja erstickt, der Arme.“, antwortete die Badu und stand auf. „Ja, natürlich sind wir alle Schuld, wenn man es genau nehmen will, weil wir ihm nicht geholfen haben. Aber wir standen ja alle unter Schock. Nicht wahr?“, fragend sah sie sich in dem kleinen Saal um.

„Ja, waren sie das?“, fragte plötzlich eine fremde Stimme hinter ihnen.