In einer stürmischen Nacht (3)
Ein hagerer Mann mittleren Alters war unbemerkt in den Saal getreten. Er trug schwere schwarze Schuhe, die nun bei jedem Schritt den Boden beben liessen. Sein ungepflegtes Erscheinungsbild liess darauf schliessen, dass er anscheinend aus dem Schlaf gerissen wurde, um nun den Tod von Jens Amundsen zu untersuchen. Aber wer war der Mann? Wer er der Notarzt, ein Polizist, der Bestatter?
„Sie alle waren also so geschockt, dass niemand dem Mann hätte helfen können? Verstehe ich das richtig?“, sagte die warme Stimme des Mannes. Er ging langsam auf den Toten zu, warf ihm einen flüchtigen Blick zu und drängte dann die Gesellschaft zurück.
„Oder haben sie ihm nicht helfen wollen? Musste dieser arme Mann vielleicht sterben, weil sie nur an das Erbe der verstorbenen Frau Mutter dachten, Herr Kaplan?“, fragte der Mann eindringlich und sein scharfer Blick fixierte kurz den Dorfkaplan. Dieser wich Kopf schüttelnd hinter einen Stuhl zurück und hielt sich an der Lehne so fest, dass seine Knöchel weiss hervor traten. Doch bevor er auch nur ein Wort sagen konnte, drehte sich der Mann der Grundschullehrerin zu.
„Oder hatten sie Angst um ihre Schule und um ihre Ehrgeizigen Pläne, Frau Battler? Die Schule steht kurz vor dem aus. Das weiss jeder. Was hatten sie vor?“
„Also das lasse ich mir nicht in die Schuhe schieben. Ich bringe doch niemanden um, nur weil ihm das Land gehört, auf dem die Schule steht. Das ist doch ausgemachter Blödsinn“, empörte sich Sophie Battler und stemmte die Fäuste in die Seite. Ihr Gesicht wurde vor Wut puterrot.
„Nein, das kann nicht der Grund gewesen. Da haben sie wohl Recht. Wenn es um das Land geht,...“ Der Mann machte eine nachdenkliche Pause.
„Fragen sie doch ihn.“ Aufgebracht mit der Hand wedelnd, zeigte sie auf Michaelis. „Der würde doch am liebsten die Schule privatisieren und noch ein Internat und Kursräume und sonst noch was daneben bauen.“
„Das war nur eine Idee, um die Schule vor der Schliessung zu bewahren. Aber ich verfüge doch gar nicht über die Mittel, meine Liebe.“
„Jetzt wo er tot ist,“ sagte der Fremde, „sind doch wohl einige Mittel verfügbar. Oder etwa nicht?“ Er sah den Ratssekretär an.
„Was sagt denn die Gemeinde dazu? Hat sie denn keine Pläne, was die Zukunft der Schule betrifft? Und wo sich jetzt ganz neue Möglichkeiten bieten.“
„Aber die Gemeinde wusste doch nicht, dass der Herr Amundsen so bald sterben würde.“
„Das nicht. Vielleicht wollte sie aber das Land kaufen und Herr Amundsen war nicht bereit dazu.“
„Das wäre theoretisch schon möglich. Aber davon weiss ich nichts. Ich bin im Moment voll mit dem Grossprojekt HubInn – Arbeitsnomaden beschäftigt.“, sagte Daniel Cast, der Ratssekretär.
„Was für ein Grossprojekt?“, fragten alle plötzlich interessiert. Niemand wusste von einem Grossprojekt.
„Also daher bin ich mit meinem Baulandprojekt ohne ersichtlichen Grund plötzlich gestoppt worden. Die Gemeinde will hier die Ruhe vermarkten. Vergessen sie ihre Schule und mein Internat, liebe Sophie. Wir sind raus.“, sagte Michaelis und lehnte sich zufrieden auf dem Stuhl zurück, auf dem er Platz genommen hatte.
„Im übrigen auch was das Mordmotiv betrifft.“
„Das kann man so nicht sagen. Denn wir haben ja alle erst jetzt davon erfahren.“, erinnerte ihn der Dorfkaplan Friedlich.
„Aber der hatte doch ein viel grösseres Interesse Amundsen umzubringen.“, protestierte der Bauingenieur und trank einen grosszügigen Schluck von dem Portwein, der noch unberührt auf dem Tisch stand.
„Das sehe ich aber genauso. Ich jedenfalls hatte keinen Grund den armen Irren da umzubringen.“ Die Grundschullehrerin liess sich auf den Stuhl am Ende des Tisches fallen und trank ebenfalls erleichtert von ihrem Glas Portwein. Dann atmete sie beruhigt auf.
„Was ist eigentlich mit ihnen, Frau Baru? Sie haben noch gar nichts gesagt.“, fragte Sophie Battler giftig.
„Ja, Frau Baru. Ein Yogazentrum würde sich in einem Hub sehr gut machen. Meinen sie nicht auch?“ Michaelis beobachtete die Yogatrainerin misstrauisch.
„Aber jemanden dafür umbringen? Nein, das ist schlecht fürs Karma.“
„Ist es nicht auch schlecht fürs Karma, wenn man lebensrettende Hilfe verweigert?“, fragte nun der Dorfkaplan.
„Aber, aber … Ich stand unter Schock. Ich hätte überhaupt nichts tun können.“ Die Worte klangen ehrlich verzweifelt. „Ich bin Yogalehrerin, keine Samariterin.“, sagte sie und streckte ihre Hände mit den Handflächen nach oben allen entgegen. Wie um damit ihre Hilflosigkeit zu demonstrieren.
„Das Messer ist weg.“ , rief plötzlich Kaplan Friedlich. Alle drehten sich ihm zu. Er stand neben dem Toten und starrte auf dessen Rippen.
„Dort hatte ein Messer gesteckt. Es ist weg.“, sagte er noch einmal verwirrt. Er strich sich mit der Hand über die Haare und musste sich erst einmal setzen.
„Jemand in diesem Raum hat das Messer entfernt. Also ist der Mörder unter uns.“, sagte der Kaplan.
„So ein Quatsch. Der Mann ist erstickt.“, behaarte Michaelis.
„Er stürzte hier erschöpft rein, und als er gierig das Essen hinunter schlang, ist er dabei erstickt.“
„Und wie erklären sie dann das Messer?“, fragte der Fremde.
„Welches Messer? Ich sehe kein Messer. Sie etwa?“ Michaelis beugte sich über den Fonduetopf und kratzte mit seiner Gabel den angebrannten Käse vom Grund des Topfes. Er entfernte den Belag und spiesste ein Stück Brot auf.
„Bitte nicht. Sie wollen doch nicht etwa davon essen. Wenn nun doch der Käse vergiftet ist. Wenn jemand einen von uns vergiften wollte.“, erinnerte ihn die Grundschullehrerin. Sie nahm ihm die Gabel aus der Hand und blies das Feuer unter dem Topf aus.
„Sie leben aber alle noch. Nur einer ist tot. Und nun fehlt auch noch die Mordwaffe.“, stellte der hagere Mann mit dem unrasierten Gesicht fest. „Wer von ihnen hatte, neben einem Motiv, denn überhaupt die Möglichkeit gehabt Jens Amundsen ein Messer in die Rippen zu stechen?“
Stille trat ein. Nachdenklich ging der Mann auf und ab. Die kleine Gemeinschaft hatte sich nun vollständig um das obere Ende des Tisches versammelt. Alle blickten auf den Toten. Sie nippten an ihrem Portwein und dachten über den Abend nach.
Plötzlich kippte der Kopf des Bauingenieurs nach vorn über. Schlaff war er auf die Brust gesunken. Die Grundschullehrerin sprang auf und schrie.
„Ich hab es euch ja gleich gesagt. Er ist tot. Er ist vergiftet. Jemand hat das Fondue vergiftet.“
„Aber er hat doch gar nicht von dem Käse gegessen“, sagte die Yogatrainerin langsam. Alle blickte sie auf ihre leeren Gläser, die sie noch in den Händen hielten.