In einer stürmischen Nacht (4)
Der Sturm fegte noch immer um die Häuser. Auch wenn er nicht mehr so stark wie noch vor ein paar Stunden war, pfiff er doch gespenstisch durch die Ritzen der Tür und zwängte sich durch undichte Fenster. Leise raschelnd bewegten sich die langen dunkelroten Samtvorhänge vor den Saalfenstern. Der Dielenboden knarrte.
Die kleine Gesellschaft sass noch immer am Tisch. Füße scharrten unruhig über den Boden. Die Grundschullehrerin atmete schwer. Sie blickte verängstigt auf den nach vorn gesunkenen Michaelis.
„Aber bitte, wer soll uns denn umbringen wollen?“, fragte Kaplan Friedlich in die Stille hinein.
„Sicher wird es nicht allen gegolten haben. Nur wem? Und warum? Zwei sind schon tot? Und wir sind noch keinen Schritt weiter.“ Der Fremde ging langsam um den Tisch. Er beobachtete alle sehr genau.
„Und wer wird der Nächste sein? Haben sie nicht unmittelbar nach Michaelis vom Wein getrunken?“, fragte er Frau Battler. „Müsste nicht einer nach dem anderen nun zusammen brechen? Es ist nur eine frage der Zeit. Nicht wahr? Wäre es jetzt nicht am Besten die Wahrheit zu sagen. Für ihr Seelenheil Herr Kaplan.“, sagte der schlanke Mann und legte dem Kaplan seine grosse Hand auf die Schulter. Dieser zuckte zusammen, doch bevor er etwas sagen konnte, sprach der Mann weiter.
„Oder sollte ich sagen für ihr Karma, Frau Baru?“ Er fixierte die Yogatrainerin mit dem Blick. Seine klaren grünen Augen waren zu schmalen Schlitzen zusammen gekniffen.
„Was wollen sie damit sagen.“ Yasmin Baru sprang auf. Ihr esoterisches Flair war ganz von ihr abgefallen. Ihr Gesicht war kreidebleich geworden.
„Wer sind sie überhaupt. Ich glaube nicht, dass sie so mit uns sprechen dürfen.“ Ihre Stimme zitterte. Doch sie stand aufrecht und gefasst vor dem Fremden.
„Kommissar Rudloff, Und ja sie haben recht. Ich dürfte sie nicht befragen, nicht ohne einen Kollegen. Ich bin ja schliesslich im Moment nicht im Dienst. Wie sie bin ich zufällig hier gestrandet. Doch ich zog es vor allein an meinem Tisch zu bleiben.“
„Sie waren die ganze Zeit hier gewesen?“, fragte der Ratsschreiber.
„Sie waren alle sehr laut geworden, da habe ich so einiges mitgehört.
Und nun bin ich von Berufswegen natürlich daran interessiert, warum der Mann dort sterben musste.“ Der Kommissar wirkte amüsiert. Er ging wieder auf und ab.
„Sie waren also die ganze Zeit hier gewesen?“, sagte Yasmin Baru verängstigt.
„Ja, und ich habe auch gesehen, wie sie neben dem Toten knieten. Hatten sie dort etwas verloren? Ein Messer vielleicht?“
„Nein! Nein!“, schrie die Yogatrainerin nun. „Ich habe … ich habe … .“, stotterte sie und brach dann in Tränen aus. „Ich habe ihn doch geliebt.“
„Pah. Geliebt, den?“, prustete ungläubig Sophie Battler heraus. „Wie tief muss man sinken, um einen … na sagen wir mal Zurückgebliebenen zu lieben?“
„Was wissen sie denn? Ihnen ist doch nur ihre Schule wichtig. Nur ihr Ansehen im Dorf. Darum die Innovationen. Nicht für die Schüler. Nur für sie.“, spuckte Frau Baru voller Wut und Abscheu der Grundschullehrerin entgegen. Sie hatte lange genug beobachtet, wie die Grundschullehrerin selbst mit Amundsen kokettiert hatte.
„Und Herr Amundsen hat diese Liebe erwidert?“, wollte der Kommissar wissen.
„Erwidert? Nein. Er wusste es ja nicht. Ich hatte es ihm nie gesagt. Nun bereue ich das sehr. Glauben sie mir. Und dann hatte er sich ja plötzlich so verändert. Als das ganze Dorf sich verändert hat. Die vielen Beschlüsse und Neuerungen, die im Umlauf waren, die Schulschliessung schwang auch immer mit.“, Yasmin sah kurz zu Sophie hinüber. „Dorfsanierung. Grunderneuerung. Alle im Dorf liefen herum, wie aufgescheuchtes Federvieh. Keiner gönnte dem anderen etwas. Ländereien wurden stählern verteidigt und an sich gerissen. Alle hatten Angst.“
„Das erklärt allerdings nicht, warum sie das Messer entwendet haben.“, sagte der Kommissar ruhig.
„Es tat mir einfach weh, ihn so zu sehen.“
„Und warum haben sie ihm dann nicht geholfen, als er am ersticken war, wenn sie ihn geliebt haben. Ich glaube ihnen kein Wort.“, sagte Sophie Battler abschätzig.
„Und was glauben sie dann, Frau Battler?“, fragte Rudloff die Grundschullehrerin.
„Sie wird ihn erstochen haben, weil er ihre Liebe nicht erwidert hat.“
„Darf ich sie daran erinnern, dass niemand an Jens Amundsen heran getreten ist.“
„Eben, sie auch nicht. Nicht einmal um ihm zu helfen. Eine schöne Geliebte wären sie“, sagte die Grundschullehrerin und ging zum Vorhang.
„Da ist es.“, sie hob das Messer auf.
„Nicht anfassen.“, rief der Kommissar. Doch zu spät. Nun waren mindestens zwei verschiedene Fingerabdrücke darauf. Und die vom Täter möglicherweise verwischt.
Der Kommissar sah sich das Messer mit der scharfen glatten Klinge genau an. Nachdenklich ging er zu Amundsen.
„Warum sollten man ihn noch erstechen, wenn er schon fast tot und niemand auch nur in seiner Nähe gewesen war.“, murmelte Rudloff vor sich hin. Er sah Richtung Tür und bemerkte kleine Blutstropfen auf dem Boden.
„Noch nicht ganz trocken.“, sagte er leise.
„Was? Was ist noch nicht ganz trocken?“, fragte der Dorfkaplan und folgte dem Blick des Kommissars.
„Wollen sie damit sagen, Amundsen war schon verletzt, als er hier herein kam?“ Friedlich bekreuzigte sich.
„Deshalb war er fast zusammengebrochen und nicht vor Erschöpfung.“
„Richtig Herr Kaplan. Aber das erklärt immer noch nicht, wer das gewesen ist.“, sagte der Kommissar.
„Keiner von uns jedenfalls.“, antwortete erleichtert die Grundschullehrerin. Und verschränkte zufrieden ihre Arme vor der Brust.
„Also Herr Kommissar, was nun?“
Der Kommissare stand auf und ging zur Tür. Er rief den Wirt. Dieser brummte vor sich hin. Mit schweren schlurfenden Schritten kam er zum Saal.
„Wer hatte den Portwein bestellt?“, fragte der Kommissar.