In einer stürmischen Nacht (1)

In einer stürmischen Nacht (1)

Das Tosen des Windes war kaum noch zu hören, so sehr wütete der Sturm. Die hohen Lärchen ächzten laut. Hier und da krachten gewaltig scheppernd Äste auf die dunkle Strasse. Doch ein einsames Licht suchte sich seinen Weg durch diese Nacht. Noch war er nicht angekommen, wenn gleich einige Kilometer tiefer Schwärze schon hinter ihm lagen. Der schmale Lichtkegel der Taschenlampe suchte die Strasse nach dem besten Weg ab. Gefährlich war es hier und auch da, stehen bleiben und auch weitergehen. Jederzeit konnte ein schwerer Ast auch ihn treffen. Dann wäre Jens Amundsen zusammen gebrochen und niemand hätte je erfahren, warum er noch unterwegs war.

Doch der Sturm tat ihm diesen Gefallen nicht. Er bog die dürren Fichten, er brach die morschen Buchen, doch kein Ast traf den Elenden. Dieser schleppte sich zum nahen Gasthaus am Dorfrand von Marienberg. Der Sturm hatte hier alle Lichter ausgeblasen. Doch im Schein der Taschenlampe konnte er die Tür und daneben die von Kerzen beleuchteten Fenster erkennen.

Vor gut zwei Stunden war ein Baum auf die Überlandleitung der Stromversorgung gefallen und hat Marienberg in Finsternis getaucht. Im Gasthaus am Berg sassen noch einige Gäste fest, die sich bei diesem Unwetter nicht hinaus wagten. Gemeinsam sassen sie im grossen Saal beisammen, der Ratssekretär Daniel Cast, der Bauingenieur Michaelis, die Grundschullehrerin Sophie Battler, die Yogatrainerin Yasmin Baru und der Dorfkaplan Erwin Friedlich. Sie hatten sich gezwungenermassen zu einem eher ungemütlichen Fondueplausch zusammengefunden. Sie diskutierten im Schein der Kerzen die neue Schulreform und welche Auswirkungen das nun auf die hiesige Dorfschule haben wird. Da schlug plötzlich die schwere Eichentür auf und riss so fest an den Angeln, dass der Holzboden leicht bebte. Eilig liefen die Gäste beisammen und halfen den armen Mann, der vor Erschöpfung vor ihnen auf die Knie gesunken war. Sie nahmen ihm Mantel und Mütze ab und setzten das kleine Häufchen Mensch auf einen Stuhl. Der Gastwirt hatte die Tür geschlossen und nun fest verriegelt. Dann ging er wieder hinter den Tresen und polierte im Kerzenlicht Gläser. Misstrauisch beobachtete er die kleine Versammlung.

„Oh dem Herrgott sei Dank.“, bettete Kaplan Friedlich, als der junge Amundsen die Augen aufschlug und nach Luft schnappte. Seine Hände zitterten noch immer von der Anstrengung des Weges. Kein Wort konnte er sagen.

„Wein. Herr Wirt. Wein.“, rief Michaelis, der Bauingenieur zum Tresen hinüber.

„Kommen sie nur erstmal zur Ruhe. Atmen sie ein und aus. Tief ein und wieder aus.“, riet ihm die Yogatrainerin. Schon murmelte sie ein Mantra um sich selbst zu beruhigen.

Bald schon kam der Wirt, der nicht unbedingt freundlich aber fleissig war, und brachte nebst dem Wein auch noch Teller und Fonduegabel für den neuen Gast. Dieser schien sich auch schon zu erholen. Er hieb mit der Gabel in den Brotkorb und spiesste die grössten Brocken auf. Dann kreiste seine Gabel im warmen, weichen Käse und verschwand in seinem gierigem Mund. So stopfte er sich die nächsten Viertelstunden voll und genoss grosszügig den Wein.

Die unfreiwillige Abendgesellschaft hatte ihr Thema wieder aufgenommen.

„Das Schulhaus hat Tradition. Das kann man doch nicht schliessen, auch wenn nun per Gesetz mehr Lehrer hier hinauf kommen müssten.“, lenkte die Grundschullehrerin das Thema auf den wunden Punkt.

„Ja, aber meine liebe Frau Battler. Ihr Engagement in allen Ehren. Wie könnte sich denn die Schule halten, wenn es mehr Lehrer, als Schüler gäbe?“, antwortete der Kaplan beschwichtigend.

„Man könnte eine Privatschule bauen. Ich hätte da noch ein Konzept, das ich nur etwas anpassen müsste.“ Michaelis rieb sich grübelnd über das glattrasierte Kinn. Sein Anzug wurde langsam knitterig. Schon vor Stunden war sein Geschäftsessen vorbei und die Vertragspartner hatten gerade noch rechtzeitig das Gasthaus verlassen. Nun sass der sechzigjährige hagere Mann hier fest. Er stopfte sein Hemd zurück in die Hose und strich sein grau meliertes Haar zurecht.

„Eine Privatschule. Wer kann sich das denn hier leisten?“ Sophie Battler hatte erst vor zwei Jahren die Leitung der Schule übernommen und versuchte nun den Standort zu halten. Die junge Frau wollte sich hier ihren Lebenstraum erfüllen und als Pädagogin neue Wege einschlagen und die Dorfschule reformieren. Doch da kam ihr die Schulreform von ganz oben zuvor. Leider führte diese nicht in die gleiche Richtung. Sophie hatte ihren Pferdeschwanz geöffnet und zerzauste ihre braunen Haare. Sie massierte sich die Kopfhaut und die Schläfen. Ihre Migräne war schlimmer geworden und noch immer tobte draussen dieser schreckliche Sturm.

„Die Leute hier oben sind doch froh, wenn sie so über die Runden kommen. Und wenn ihre Kinder nicht noch mit dem Bus nach Marienberg zur Schule fahren müssen.“, murmelte sie.

„AHHH ohhhmmmmmm. Eine Privatschule? Vielleicht mit Kursräumen?, mischte sich nun Yasmin Baru ein. „Das könnte ich mir gut vorstellen.“, flötete sie und tänzelte im Raum herum. Ihre leichten Röcke schwebten hinter ihr her, wie ein bunter Vogelschwarm.

„Aber doch nicht für die paar Kinder von hier. Man könnte das ganz gross aufziehen. Ein Internat mit besonderem Flair.“ Michaelis hatte leuchtende Augen bekommen. Derweil stiegen Tränen in die Augen der Lehrerin. Alle diskutierten eifrig über das Thema Schule nur der Herr Ratssekretär war sehr still geworden. Er beobachtete den schmatzenden Neuankömmling abschätzend. Plötzlich trat Stille ein. Alle wandten sich Amundsen zu. Dem blieb auf einmal der letzte Bissen im Hals stecken. Er röchelte und hustete. Er griff sich an die Kehle und gestikulierte wild mit den Armen. Sein Gesicht lief rot an.

Die Lehrerin kniff ihre grünen Augen wütend zusammen. Tiefe Falten zogen sich über ihr Gesicht.

„Atmen. Ein und wieder aus. Ein und wieder aus.“, trällerte die Yogatrainerin und wedelte mit den Armen wie ein Vogel beim Fliegen.

Michaelis nahm das Handgelenk des armen Mannes und fühlte dessen Puls, während der Herr Kaplan am Fenster vor den Kerzen stand und einen Rosenkranz nach dem anderen betete.

Der Wirt polierte fünf Gläser und goss eine dunkelrote Flüssigkeit hinein. Als er sie zum Tisch brachte, war Amundsen auf seinem Stuhl zusammengesunken. Sein Kopf lag nach hinten gebeugt über der Lehne, die Arme hingen schlapp an den Seiten herunter.

„Der Sturm legt sich langsam. Ich denke sie können bald nach Hause gehen.“, sagte der Wirt und räumte das Gedeck von Jens Amundsen ab.


Was Jens Amundsen in den Sturm trieb? Wir werden es wohl nie erfahren.