Liebe zum Kind

Liebe zum Kind

Die Augen des Kindes waren vor Angst geweitet. Flehend sah mich dieses kleine runde Gesicht an. Von der Sonne sanft gebräunte Haut verströmte den Duft desSommers. Es roch nach Sonnencreme, Heu und Wärme. Ich spürte deutlich sein Herzschlag. Doch noch konnte ich mich von diesem Anblick nicht lösen. Nicht den kleinen bebenden Körper retten.

Wie war ich nur hierher geraten? Ich wollte spazieren gehen, die Gedanken ordnen, zur Ruhe kommen. Mein rastloses Treiben in den Griff kriegen. Mir schien der Park mit den alten hohen Bäumen und dem kleinen Weiher genau der richtige Ort dafür zu sein. Ich spürte auch schon etwas Wohliges, Beruhigendes über mich gleiten. Leise plätschertedas Wassers, wenn die Enten ihre Bahnen zogen. Kaum hörbar. Doch ich konnte es spüren, ja fast atmen. Den Frieden dieses Ortes wollte ich in mir aufnehmen. Ich sog die feuchte Luft tief ein und spürte, wie sie mich gleichsam belebte und beruhigte.

Von der Bank, auf der ich sass, konnte ich einen Spielplatz sehen. Das aufgeregte Geschrei der Kinder war aber weit genug entfernt, dass es mich nicht in meiner Ruhe stören sollte. Und doch lies mich der Spielplatz nicht los.

Allmählich wurde ich nervös undzittrig. Wie viele Kinder werden wohl dort spielen? Ich lauschte. Versuchte es zu erraten. Plötzlich stand ich auf. Mich konnte nichts mehr halten, nicht die alten Bäume, ob gleich sie bedrohlich rauschten. Auch nicht der See mit seinen aufgeregt schnatternden Enten. Ich ging getrieben durch den Park, an einem Campingplatz vorbei, bis zu den ersten Klettergerüsten.

Der Spielplatz lag im lichten Schatten einiger hoher Pappeln. Auf zwei Bänken sassen Mütter und plauderten angeregt. Ich ging langsam am Zaun entlang und beobachtete die Kinder. Sie sprangen und kletterten. Ihre Röckchen flatterten im Wind um die dünnen Beine. Zwei Babies sassen im Sandkasten nahe der Mütterbank. Sie waren unter ständiger Beobachtung.

Ich setzte mich ansEnde des Spielplatzes auf einen Holzbalken. Hier spielten die Kinder fast völlig unbeaufsichtigt. Das gefiel mir. Sie waren so ursprünglich, so ganz sie selbst. Ich spürte wie in ihnen Freude und Übermut hoch kochte. Doch ein Kind war etwas abseits. Es schien allein zu sein. Verlegen lächelte es mich an und ich winkte ihm ermutigend zu.

Das war kaum 10 Minuten her und nun sass das Kind vor mir. Es zitterte verängstigt.

In mir aber kochte das Blut, Adrenalin schoss mir durch die Adern. Ich war kaum 2 Meter weitvon ihm entfernt. Unter uns in 3 Metern Tiefe der aufgeschüttete Waldboden desSpielplatzes. Um uns herum das lautes Gebrüll der anderenKinder, die sich über Hängebrücken und Kletternetze jagten.

Doch hier abseits des Geschreis war nur ich und das Kind. Es war etwa 4 Jahre alt. Wo waren seine Eltern? Wie kam es hierher? Warum bemerkte uns niemand hier oben? Alles Fragen, die ich mir in diesem Moment nicht stellte. Das kam erst viel später. Ich wollte es einfach nur haben, das Kind. Es halten, an mich drücken. Es retten.

Vorsichtig kletterte ich aus dem Baumhaus, an dem die Röhrenrutsche befestigt war. Für einen Erwachsenen war das nicht so einfach. Alles war klein und eng. Ich klemmte mich mit einem Bein am Gerüst fest. Meine Muskeln spannten sich schmerzhaftgegen denBalken, um mir Halt zu geben. Dannstreckte ich mich langsam dem Kind entgegen. Essah mich verzweifeltan. Es hockte wie erstarrt aussen auf der Rutsche und klammerte sich an den Vernietungen der einzelnen Segmente fest. Tränen verwässerten die strahlenden Augen.

Komm schon, es wird alles gut. Ich flüsterte, aus Angst, dass ein einziger lauter Ton das Kind erschrecken würde und es los liess und fiel. Mein Arm war weit ausgestreckt, ihm entgegen und ich nickte zuversichtlich, wie ich hoffte.

Jetzt nur keine falsche Bewegung. Mein Herz schlug wild in meiner Brust, ich konnte kaum noch atmen.Das Kind löste Finger für Finger seinen Griff von der Rutsche. Die Zeit schien für uns beide still zustehen. Bitte, gib mir deine Hand, formte ich tonlos mit den Lippen. Dann ging alles ganz schnell. Ich packte das kleine Ärmchen am Handgelenk und zog das wimmernde Bündel zu mir herüber. Den kleinen Körper an mich gepresst stieg ich zurück ins Baumhaus.

Jetzt erst begann ich zu zittern. Was, wenn ich es hätte nicht halten können? Was, wenn es mir aus den Händen gerutscht wäre? Jetzt kamen die Fragen. Wo waren die Eltern?  Was machte es aussen auf der verdammten Rutsche? Doch das Kind war hier und alles war gut.

Wir stiegen gemeinsam herunter. Das Kind klammerte sich fest an mich. Auf einer Bank erholte sich das Kind schneller, als ich. Wir unterhielten uns, bis auch ich aufgehört hatte zu zittern. Anscheinend war das Kind allein hier, der Vater auf dem Campingplatz gegenüber und die Mutter arbeiten,erzählte das Kind. Es wischte sich die Rotznase und die letzten Tränen am Ärmel der Jacke ab. Dann sah es mich auffordernd an. Doch ich konnte nicht bleiben. Was wollte ich überhaupt hier?

Ich nahm das Kind an der Hand und wir gingen zum Campingplatz. Zwischen Zelten und Campern, fanden wir schliesslich auch den Campingbus des Vaters. Er las in einer Zeitung. Verständnislos sah er mich an. Sein Gesicht durchzogenzornigen Falten. Das Kind kann schon allein auf den Spielplatz, so hatten sie es abgesprochen. Es ginge mich nichts an, was sein Kind tut oder nicht tut. Die Story mit der Rutsche winkte er ab und klopfte dem «mutigen» Kind auf die Schulter.

Ich ging. Wieso sollte ich auch bleiben? Das Kind lief mir noch ein paar Schritte nach. Dann ging es allein zum Spielplatz zurück, während sich sein Vater in den Camper zurückzog.

Ich hatte die Geschichte mit dem Kind schon fast vergessen, als ich eine Woche später am Frühstückstisch sass und in derZeitung blätterte. Dort stiess ich auf einen kleinen Artikel am unteren Rand. Ein Kind war in einem kleinen Weiher, nahedes Campingplatzes auf dem es mit dem Vater Urlaub machte, ertrunken. Ich klappte die Zeitung zusammen und legte meine Hand auf den blauen Fleck, der auf meinem Schenkel langsam verblasste.