Weihnachtsglocken
Er hatte sich so etwas gleich gedacht. Seit Jahren schon beobachtete er die Gräber auf dem Kirchhof. Und irgendetwas stimmte da nicht. Immer um die Weihnachtszeit nahm er Veränderungen wahr. Es war nichts greifbares, nichts was er hätte in Worte fassen können. Der Dorfsheriff, wie sie ihn alle hier nannten, wohnte am Friedhof. Eine hohe Thujahecke trennte seinen Garten vom Kirchhof. Doch aus dem Fenster im ersten Stock konnte man, wenn man wollte, die braven Witwen sehen, wie sie sonntags zu den Gräbern gingen, welke Blumen austauschten und mit den anderen Grabgängerinnen tratschten.
Doch im Winter wurde es ruhiger auf dem Friedhof. Die Gräber waren mit Tannenzweigen abgedeckt. In der Nacht flackerten die Grabkerzen gespenstisch in der Dunkelheit und nur selten gingen Besucher zwischen den Gräbern hindurch. Es war eine friedliche Zeit. Nicht dass der Sheriff ständig den Friedhof beobachten würde, oder sonst etwas. Er hatte ja schliesslich noch mehr zu tun. Aber eben doch nicht so viel, dass ihm die Veränderungen nicht aufgefallen wären.
Es war fast Mitternacht. Bald würden die Weihnachtsglocken läuten. Alle waren sie brav zur Messe gegangen, demütig den Heiland preisen. Einem unglücklichen Missgeschick war es zu Verdanken, dass der Dorfsheriff nicht auch zur Kirche gehen konnte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als im Dunkeln am Fenster zu sitzen und der leisen Predigt und den Liedern von hier aus zu zuhören.
Da schlurfte eine geduckte, bepackte Gestalt in Richtung Friedhof. Gut konnte er sie nicht erkennen. Es lag kein Schnee und die Nacht war sehr Dunkel.
Der dunkle Schatten bückte sich hinter die Büsche und nahm eine Schaufel hervor. Dann begann er das alte Priestergrab auszuheben. Es war nur ein symbolisches Grab. Nichts lag darin, oder etwa doch?
Vorsichtig beugte sich der alte Mann nach vorn, um die Geschehnisse besser sehen zu können. Es war eine sternenklare Nacht. Es war kalt. Aber der Frost würde erst in den nächsten Nächten die Erde erreichen.
Er sah einen schmächtigen Mann mit faden eingesunkenen Wangen. Sein leises Schnaufen drang durch die stille Nacht zu ihm ans Fenster. In kleinen grauen Wölkchen stieg sein Atem in die kühle Abendluft. Er schien nicht tief zu graben. Er hatte zuvor die Tannenzweige und die Kerze zur Seite gestellt. Was tat dieser Mann dort? Merkte denn Niemand etwas? Aber alle waren ja zur Messe. Kein Mensch war unterwegs.
Es war wohl von Vorteil, dass die Gräber im Winter mit Zweigen abgedeckt waren. So fällt ein aufgewühltes Grab natürlich nicht auf. Dachte der Dorfsheriff. Das ist sehr clever, wenn man etwas oder jemanden verschwinden lassen wollte. Nun lief es ihm doch eiskalt den Rücken runter.
Er nahm seine Krücken und humpelte vorsichtig durch den Garten. Was konnte er nur tun? Er versteckte sich hinter seiner Thujahecke und beobachtete den Grabenden.
Im Schatten der alten Eiben warf dieser gerade einen schweren Sack in die Grube, die er ausgehoben hatte. Ein ekelerregender Geruch stieg aus dem Grab und breitete sich auf dem Friedhof aus. Dem Sheriff wurde übel. Da begannen die Glocken zu läuten und erschreckten ihn. Der Mann am Grab hielt inne, zog seine braune Wollmütze vom fettigen Haar und zerknüllt sie zwischen seinen rauen Händen. Zeigte er in diesem heiligen Moment etwa Reue, dachte er vielleicht an das armselige Leben, dass er beendet hatte?
Doch dann musste sich der Mann beeilen. Die Messe war fast vorüber. Noch während ohrenbetäubend die Glocken hoch über ihnen läuteten, schaufelte er gewissenhaft die gesamte Erde zurück, trat sie mit seinen schweren Stiefeln fest und verteilte die Tannenzweige darüber. Er stellte die Kerze zurück und zündete sie wieder an.
Dann verklang das Glockengeläut. Menschen strömten aus der kleinen Kirche und liefen am dunklen Friedhof vorbei. Kein einziger verirrte sich darauf.
„Ist es nicht schändlich, dass man so einfach die vergiss, die nicht mehr bei uns sind?“, fragte eine Stimme plötzlich in die Dunkelheit hinein.
„Alle meiden sie den Friedhof, nur weil es stockfinstere Nacht ist. Schnell fliehen sie vor der Kälte und der Nacht in ihre warmen Stuben.“
„Sie aber nicht.“, antwortete der Dorfsheriff zitternd. Er hatte nun Angst bekommen. Er war entdeckt wurden und der Mann dort im Schatten musste wissen, was er beobachtet hatte. Doch mit den Krücken würde er es nie schnell genug zurück ins Haus schaffen. Die Kälte kroch an ihm empor. Längst hatten sich die Kirchgänger verstreut. Er war allein.
„Nein, ich nicht.“ Langsam ging der Mann auf die Thujahecke zu. Er knetete nervös seine schwieligen Hände.
„Wissen sie, das Grab war eh leer und warum sollte ich es nicht einem, sagen wir mal gutem Zweck widmen?“, meinte er zögernd.
„Und sie meinen das das ein guter Zweck ist?“ Der Dorfsheriff wich langsam zurück. Doch nicht schnell genug. Eine grosse Hand stiess durch die Hecke und packte ihn. Der Mann zerrte den Dorfsheriff hinter sich her.
Nun erkannte er ihn auch. Es war der Mann, der im Försterhaus wohnte und wer weiss was arbeitete. Man sah ihn nur selten im Dorf.
„Bitte sehen sie es sich an. Und dann sagen sie mir, ob das nicht Grund genug ist, in geweihter Erde zu ruhen.“
Der Mann trug den Sheriff mehr, als das dieser ging, durch das verwaiste Dorf. Als sie das Försterhaus erreichten, humpelten sie um das Haus herum. Entsetzen ergriff den Dorfsheriff. Auf einem kahlen Stück Erde stand ein blutbesudelter Hackklotz. Das Beil steckte noch darin.
Der Mann riss das Beil heraus schwenkte es verstört durch die Luft und erzählte von seiner frommen Mutter, die wohl gerade in diesem Moment noch auf der harten Kirchbank sitzt und für ein friedvolles Weihnachtsfest betete. Der Dorfsheriff hoffte inständig, die Alte würde schneller beten und bald zurückkommen und das Schlimmste noch zu verhindern wissen. Doch dann vernahm er voller entsetzen, dass es die Alte gewesen war, die mit ihren 78 Jahren das Beil genommen hatte und mit zwei, nein drei Hieben den Kopf vom Körper getrennt hatte und dass er, der Sohn, keinen Bissen hatte davon Essen können. Und da verschwand für einen kurzen Moment die Angst und das pulsierende Pochen in den Ohren des Sheriffs und er hörte dem Mann genau zu.
„Für die sterblichen Reste eines viel zu kurzen Lebens schulde ich ihr doch wenigstens einen würdigen Ort.“
„Für wessen Überreste?“ Der Dorfsheriff sah sich den Richtplatz genauer an. Und da entdeckte er Blut verklebte Federn.
Der Mann aber scharrte mit seinen Stiefeln Erde auf das Blut. Dann sank er vor dem Hackklotz nieder und schickte ein Stossgebet in die Nacht, dass seine Mutter ihm doch bitte im nächsten Frühjahr keine neue Gans bringt. Und endlich versteht, dass Vegetarier kein Fleisch essen. Nicht einmal Geflügel.