Das Maikäferdilemma

Das Maikäferdilemma

Leichen. Leichen. Alles voller Leichen. Bei jedem Schritt knirschte es unter dem Schuh. Wir hatten noch nicht mal Mai, schon krochen über Nacht tausende Maikäfer gleichzeitig aus der Erde, um dann angezogen vom Licht der Strassenlaternen, auf den Gehwegen ihrem Tod entgegen zu krabbeln. Zertrampelt, zerquetscht, erschöpft.

Was für ein lausiges Leben, dachte Kommissar Schwarz. Drei, Fünf, manchmal sieben Jahre verbrachte diese seltsamen Lebewesen unter der Erde. Frassen sich unter der Rasennabe entlang und verwüstete ganze Wiesen. Dann der Moment des Erwachens. Kurz vor dem Tod die grosse Metamorphose. Aus der weissen, fast hilflos wirkenden Larve, entwickelt sich ein prächtiger Käfer, mit braun glänzendem Panzer, mit wunderschönen Fühlern und Beinen. Ja sogar Flügel hatte das Tier. Und für was? Um einmal zu fliegen. Ein einziges Mal. Im Flug den richtigen Partner oder die richtige Partnerin finden, ein Liebestänzchen im Mondschein, oder eben unter einer Laterne, was macht den Unterschied? Danach stürzt er kraftlos ins Gras oder auf Gehwege und Strassen.

Auf dem Rücken liegend zappelt er mit den Beinen, die er nun nicht mehr braucht. Die Flügel sind eingeknickt, er blinzelt in die aufgehende Sonne. Von irgendwoher kommt ein grosser Schuh. Zeit zur Flucht bleibt nicht. Wohin auch? Warum überhaupt fliehen? Der Tod klopft eh schon an seinen Panzer. Ein letzter Atemzug und knack.

Angewidert schiebt Kommissar Schwarz die toten Hüllen verendeter Käfer von der Motorhaube seines Kleinwagens. Scheibenwischer an. Drei Mal auf die Scheibenwaschanlage gedrückt. Hin her, Hin her. Naja, besser wird`s nicht mehr. Er musste los.

Im Büro hängte er den Hut an den Garderobenständer, den Mantel darunter und ging zur Kaffeemaschine. Eine schöne altmodische Filterkaffeemaschine. Gedankenverloren goss er das schwarze Getränk in seine Tasse. Platsch. Da fiel ein Maikäfer direkt in seinen Morgenkaffee. Na das war doch die Höhe. Erst überall Leichen verteilen und nun noch seinen Kaffee ruinieren. Das war zu viel. Was bildeten sich diese Käfer ein.

Wütend knallte er den Becher auf den Tisch. Der Kaffee schwabbte über den Rand und verhalf so dem Käfer zur Flucht.

Der Kommissar bemerkte die Flucht nicht. Beschäftigt mit Aufwischen, sah er nun keinen Käfer mehr. Hatte er sich denn das alles nur eingebildet? Natürlich, so musste es sein. Käfer, die im Kaffee schwimmen, als sei seine Tasse ein Schwimmbad. Wahrscheinlich hatte er sich auch die vielen Käferleichen auf dem Gehweg nur eingebildet. Er hätte eben doch nicht gestern Abend noch den neuen Tatort sehen sollen. Der wird von Mal zu Mal schlechter. Mit wahrer Polizeiarbeit hatte das wenig zu tun.

Er aber musste sich täglich mit den wahren Problemen einer Stadt beschäftigen.

Er kratzte sich das stoppelige Kinn. Binnen zwei Stunden war nachgewachsen, was er heute morgen sorgsam entfernt hatte. Und nun sah er wie immer aus, etwas liederlich, zerknautscht und mit Schatten ums Kinn.

Die grossen Hände gefaltet, streckte sich Kommissar Schwarz auf seinem Bürostuhl aus, atmete tief durch und wollte sich nun an die Arbeit machen, da platzte Renner herein.

Sein junger Kollege, der ihm für gewöhnlich gegenüber sass und ihn seit einigen Jahren bei der Arbeit begleitete, wedelte mit einem dünnen Stapel Papiere.

«Eine Anzeige nach der Anderen trudelt schon den ganzen Morgen ein», sagte er und ging zur Kaffeemaschine. Er nahm den noch immer dort stehenden Kaffeebecher und trank einen Schluck.

Schwarz verzog das Gesicht. Er dachte an den Käfer, der vielleicht vor ein paar Minuten noch darin seine Bahnen durch den Kaffee gezogen hatte. Wo war er nur abgeblieben?

«Was für Anzeigen?», fragte nun Schwarz. Wenn es Arbeit gab war er sofort wach, auch ohne Kaffee.

«Also, wie soll ich es sagen?» Renner schob seine kleine, runde Brille zurecht. «Es handelt sich im allgemeinen immer um die selbe Sache.»

«Nun spucken sie es schon aus. Ich habe nicht ewig Zeit. Sie wissen, dass mein Ruhestand vor der Tür steht. Und wenn sie sich nicht allein durch die Anzeigen wühlen wollen...» Schwarz machte eine Pause. Er schob die dunklen Augenbrauen hoch und wedelte mit der Hand.

«Okay. Es ist wegen der Käfer.»

Schwarz erstarrte. Ihm war sogar das Atmen vergangen. Nun aber fiel es ihm wieder ein und er schnappte nach Luft.

«Wegen der Käfer?»

«Ja. Also, es ist so, dass überall diese Käferkadaver herum liegen. Das ist doch nicht normal.»

«Naja. Eigentlich würde ich sagen, dass das schon normal ist. Oder nicht?» Schwarz war sich auf einmal nicht mehr ganz sicher.

«Doch seit wann gehen uns Käferangelegenheiten etwas an? Ist das nicht eher was fürs Veterinäramt oder den Naturschutzbund oder so etwas?»

«Eben nicht. Die haben ja die ersten Anzeigen geschickt. Hier, das Veterinäramt. Und hier, NABU, und die örtliche Tierärztekammer, Tierschutzorganisation Rheintal und und und...» Renner knallte ein Aktenmäppchen nach dem Anderen auf den Tisch.

«Die sind alle beunruhigt. Und ich muss zugeben. Ich auch. Neben den dutzend Anzeige von behördlicher Seite, gibt es noch zwei dutzend Anzeigen von Privatpersonen.» Renner machte eine Pause. Er sah ernst aus. Sein schmales Gesicht, die roten Wangen und das dünne Kinn machten einen besorgten Eindruck.

«Geben sie mal her.» Schwarz riss ein Exemplar aus Renners Händen und blätterte darin.

Nun zogen sich seine Augenbrauen fest zusammen, fast bildeten sie eine durchgehende Linie. Die schmalen Schlitze seiner grauen Augen versuchten etwas zu fokussieren.

«Aber es handelt sich nur um Maikäfer?»

«Ja.»

«Und sie liegen zu hunderten tot auf den Wegen?»

«Manche bewegen sich noch. Aber die sind nicht mehr zu retten.» Renner tippte auf eine Stelle auf dem Papier.

«Und sie vermuten… » Kommissar Schwarz machte eine Pause und sah mit gespitzten Lippen zu seinem Kollegen. Als dieser nichts erwiderte, beendete er langsam den Satz, «… ein Verbrechen?». Renner nickte vorsichtig.

«Sie nicht?»

«Nun ja. Ich gehe davon aus, dass es normal ist, dass im Mai die Maikäfer aus der Erde kommen, um dann nach der Paarung zu verenden.»

«Im Mai. Ja. Wir haben aber noch April.»

Schwarz kratzte sich das Kinn.

«Ich verstehe. Und was sollen wir nun tun? Welchen Ansatz verfolgen Sie?»

Renner setzte sich auf die Kante des Schreibtisches. Das machte er immer so, wenn es etwas zu besprechen gab.

«Es sieht nach Mord aus. Oder erweitertem Suizid. Was die Vermutung nahelegt, dass eine Sektenzugehörigkeit dahinter stecken könnte.»

«Eine Sekte? Die Maikäfer?»

«Warum nicht? Wir haben immerhin Glaubensfreiheit in unserem Land. Auch für Maikäfer.»

Kommissar Schwarz versuchte seine Gedanken zu ordnen. Was sein Kollege da sagte wäre im Grunde genommen nicht falsch, wenn es um Menschen ginge. Doch die Sache war kompliziert. Er rieb sich die Stirn. Atmete drei Mal tief ein und wieder aus. Ging zum Fenster und sah auf die Strasse.

Leblose Körper, wohin man auch sah. Vielleicht hatten sein Kollege, das Veterinäramt und all die anderen Leute recht. Vielleicht ging das nicht mit rechten Dingen zu.

«Maikäfer im April», murmelte Schwarz.

Wieder am Schreibtisch nahm Kommissar Schwarz einen Block zur Hand.

«Was haben wir?»

Renner sprang vom Tisch und ging zu seinem Kollegen.

«Unzählige Maikäferkadaver. An verschiedenen Orten der Stadt.»

«Gibt es eine Konzentration?»

«Ja. Hier. Hier und hier.» Renner zeigte auf verschiedene Orte auf dem Stadtplan an der Wand.

«Das sind alles sehr helle Orte in der Nacht. Dort haben wir ein konzentriertes Angebot an Licht.»

«Genau.»

«Was schliessen sie daraus?»

«Der oder die Täter wollte, dass die Leichen gefunden werden.»

«Richtig. Also. Wenn wir die Leichen finden sollten, so steckt da ein grosses Interesse an Aufmerksamkeit dahinter.» Schwarz ging um den Schreibtisch zum Stadtplan. Er sah nachdenklich auf die verschiedenen Orte.

«Tankstellen, Industrie, Grosshandel. Kann es etwas Aktivistisches sein?»

«Ein Massensuizid, der sich gegen Kapitalismus richtet? Ist das nicht etwas weit hergeholt?»

«Warum nicht? Immerhin haben es die Käfer zunehmend schwerer in unserer konsumorientierten Gesellschaft. Ich denke da sogar noch weiter. Schliesslich leben sie die meiste Zeit unter der Erde. Doch das ist sicher kein Vergnügen mehr. Zunehmende Überbauung und Verstädterung belastet die Böden. Die Bodenqualität ist schlecht. Bodenversiegelung. Und wenn doch noch irgendwo ein Stück Natur bleibt, wird dass durch Englischen Rasen zur Einöde. Kulinarische Vielfalt ist das sicher nicht. Für die Larven der Käfer ein karges Leben.

Und dann noch der Lärm des städtischen Lebens. Überall wird gebaut. Das dröhnt und bebt im ganzen Erdreich, wo es denn noch welches gibt.»

Kommissar Schwarz ging nachdenklich auf und ab.

«Und Mord? Welche Motive würden für einen Mord sprechen?», fragte Schwarz.

Renner setzte sich wieder auf den Schreibtisch. Er blätterte in den Unterlagen.

«Erpressung? Oder Hass. Immerhin ist Fremdenfeindlichkeit eines der grössten gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit. Wenn etwas schief läuft, sind immer die anderen daran schuld. Die Ausländer, die Schwulen, die Frauen oder eben irgendwelche Tiere.»

«Aber Käfer? Renner, woran sollen die denn Schuld sein?»

«Ich denke mir, da kommen nur eine Handvoll Täter in Frage. Der Tourismusverein, die Hoteliervereinigung oder der Golfclub.»

Schwarz liess sich in seinen Stuhl fallen. Dass er da nicht selbst drauf gekommen war. Natürlich. Das lag doch auf der Hand. Da fällt der Massensuizid ganz weit ins Abseits.

«Die Golfplätze bringen Millionen», sagte er nachdenklich.

«Eben», antwortete Renner.

«Eben. Recherchieren sie wieviel. Und um wieviel Hektar es sich handelt. Ich fahre zum Golfclub. Sehe mir die Sache mal genau an und spreche vor Ort mit den Betreibern über Bodenqualität und eventuelle Schäden der Golfwiesen. Der Fall ist so gut, wie gelöst.»

Schwarz setzte den Hut auf und ging zu seinem Wagen. Er nahm einen Maikäfer von der Frontscheibe und steckte ihn in ein kleines Tütchen. Dann schaute er missmutig auf seinen Kofferraum. Achja, da war ja noch was.

«Ach darum kümmere ich mich später.»