Die kleine Detektivin
Was war das für ein schöner Tag. Der Himmel leuchtete in einem strahlenden Blau. Kleine weisse Wölkchen tanzten am Horizont über die fernen Bergkämme. Es duftete nach Flieder und um die Holunderbüsche summten die Hummeln.
Johanna liess sich aber von diesem Wetter nicht trügen.
«Meist sind es die unscheinbaren Tage, die ruhigen, sonnigen Tage, von denen keiner glaubte, dass etwas Aufregendes passieren würde», sagte sie. Die Nase tief über dem heissen Asphalt.
Johanna Besenstiel-Bürger war das dritte Kind ihrer Eltern und das Letzte, wie ihre Mutter ihr immer wieder beteuerte. «Wenn ihre älteste Schwester Sybilla so gewesen wäre, wie Johanna, wäre sie sicher ein Einzelkind geblieben», sagte ihre Mama immer. Das war ja klar, weil sie perfekt war. Also Johanna. Und das wusste sie genau.
Dem Asphalt einstieg mit der Hitze ein scharfer, stechender Geruch. Aber Jo, wie sie genannt wurde, hielt das nicht ab. Sie war nämlich etwas auf der Spur.
Sie holte die Lupe aus ihrer Hosentasche und betrachtete die kleine feuchte Spur genau. Nachdenklich lutschte sie an ihren roten Lolly.
Gertrude kam näher und roch an dem kleinen Klecks, den Jo gerade untersuchte. Interessant wardas ganze nicht. Also schmiegte der Kater sich schnurrend unter Jo hindurch, die den Po in die Luft streckend über dem Asphalt vor ihrem Haus kroch und einen Fleck betrachtete, der ihr höchstwahrscheinlich kurz zuvor aus dem Mund getropft war.
Da stampften zwei grosse, braune Schuhe an ihr vorbei. Blieben stehen und drehten sich zu dem kleinen Mädchen mit dem wilden Strubbelhaar um.
«Na, hast du etwas entdeckt?», sagte ein Mann, weit über den Schuhen. Seine Stimme sank weich und klebrig zu Boden und legte sich kalt über Johannas Schulter. Gertrude sprang fauchend zur Seite undentschied sich zur Flucht in die nahen Holunderbüsche.
Der Mann zündete sich eine Zigarette an. Zog an dem glühenden Stängel und grinste auf das Mädchen herab.
«Wenn du was findest, sag mir Bescheid. Ich bin nämlich auch ein Detektiv.» Er tippte sich gegen die Nase und zwinkerte Jo zu, dann ging er weiter. Die ganze Zeit hatte sie von unten zu dem Mann empor gesehen. Er war gross, sehr gross und seine Schuhe waren mindestens so lang, wie ihre Arme gewesen. So einen Mann hatte sie noch nie hier gesehen.
Und da war noch etwas. Jo hatte sich jede Einzelheit des Mannes eingeprägt. Denn das tun richtige Detektive so. Und Detektivinnen tun das erst recht.
An der Hose des Mannes hatte Johanna dunkle Flecken gesehen. Vielleicht Blut. Das konnte man so aber nicht mit Bestimmtheit sagen, ohne genauere Untersuchung.
Die Hose war blau, jeansblau. Wahrscheinlich hatte der Mann gedacht, dass man daran Flecken nicht so gut erkennen würde. Falls, das was er getan hatte, für Flecken gesorgt hatte. Johannes Mutter sagte das immer, also das mit den Flecken an Jeans.
Johanna musste handeln. Schnell sprang sie auf und drehte sich um. Wo war er hergekommen? Wo ging er hin? Was sollte sie nun tun? Ihm folgen, oder sehen, welche Tür des Mehrfamilienhauses gerade ins Schloss fiel?
Doch zu spät. Die Tür war bereits laut knallend in irgendein Schloss gefallen. Ohne, dass Johanna bemerkt hatte, welche Tür es war.
Na dann war die Sache klar. Sie schnappte sich ihren Roller und sprang im Laufen darauf. Der Roller sauste um die Häuserecke und genau hinein in Frau Sagebaums vollen Busen.
«Na, Na, Johanna Besenstiel-Bürger, wo willst du denn hin? Und Gertrude hast du auch dabei?» Frau Sagebaum richtete ihre Kleidung und drückte sich die Frisur wieder zu recht. Obwohl Johanna gar nichts mit ihrer Frisur getan hatte.
Mittwochs kam sie immer, um sich um Oma Habenknecht zu kümmern. Was sehr nett war von Frau Sagebaum, fand Jo. Das war allerdings das einzige, was Jo an der üppigen Damen nett fand. Denn Frau Sagebaum war immer sehr streng, wenn es um Kinder ging. Zu laut. Zu klebrig. Zu dreckig. Zu unordentlich. Über Katzen dachte sie übrigens genauso.
Gertrude konnte Frau Sagebaum seinerseits auch nicht leiden, weil sie einmal gemeint hatte, das Gertrude kein richtiger Name für einen schwarzen Kater sei. Das hat ihr Gertrude nicht verziehen. Denn er mochte seinen Namen.
Gertrude und Johanna machten für gewöhnlich einen grossen Bogen um Frau Sagebaum, wenn sie mittwochs zu Oma Habenknechtzum Helfen kam. Dass heute schon wieder Mittwoch war, wurde ihnen beiden aber erst jetzt klar.
Meistens streiften sie gemeinsam umher. Krochen durch die Büsche, stiegen in Keller ein und kletterten auf Bäume, um von dort die Leute zu beobachten. Obwohl Gertrude eigentlich Oma Habenknecht gehörte. Doch die war sehr alt und fast blind. Die kletterte ganz sicher nicht mehr auf Bäume oder stieg in Keller ein. Das musste schon Jo machen und ihr dann davon erzählen. Dann freute sich Oma Habenknecht und lachte und klatschte in die runzligen Hände und sagte Sachen, wie «Nein, das Kind», oder «Sowas aber auch», und «das habe ich früher auch gern gemacht.»
So lange Gertrude abends da war und ihr die kalten Fussknöchel wärmte und morgens die fette Kondensmilch schleckte, die sie nur für ihn kaufte, war für Oma Habenknecht alles gut so, wie es war. Und für Johanna und Gertrude auch.
«Also? Wo wollt ihr denn so schnell hin, dass ihr alle Passenten umfahrt. Hast du etwas angestellt Johanna Besenstiel-Bürger?», fragte Frau Sagebaum noch einmal und zog ihre nachgemalten Augenbrauen weit nach oben.
«Ich? Nee. Wir wollen nur so rumfahren», stammelte das Mädchen. Und rollte langsam an der runden Frau vorbei. Gertrude schlich durch die Büsche, in die er sich geflüchtet hatte, ihr nach. An der grossen Strasse sah Johanna sich um. Doch der Mann war weg.
«So ein Mist. Nun bleibt nur eins. Ohren und Augen offen halten», sagte sie mit erhobenen Zeigefinger zu dem Kater.
«Der hatte sicher nichts Gutes im Sinn.» Jo kreiste den Lolly im Mund herum und kniff dabei ihre dunklen Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Das tat sie immer, wenn sie nachdachte. Und sie musste nachdenken. Und zwar ganz schrecklich viel.
Johanna sass auf der kleinen Bank unter Oma Habenknechts Fenster und ass Sahnebonbons. Die hatte sie von Oma Habenknecht bekommen, als Frau Sagebaum gegangen war, weil Jo immer so schön auf den kleinen Kater aufpasste.
«Gertrude ist schon ein liebes Tier», sagte Oma Habenknecht und streichelte das samtige Fell des kleinen Katers.
Oma Habenknecht war mit Frau Sagebaum aus der Tür getreten. Hatte sich auf die Bank gesetzt und sanft gelächelt, bis Jo zu ihr kam. Nun sassen sie beide da, lutschten Sahnebonbons und lächelten zufrieden.
«Was, wenn ich dir ein Geheimnis verrate, Oma Habenknecht», sagte Jo nachdenklich.
«Ja, was denn. Hat sie denn Geheimnisse?»
«Ja, klar. Jede Menge.»
«Und nun willst du eines mit mir teilen?» Oma Habenknecht legte den Kopf schief und sah zu Johanna. Die nun gar nicht mehr sicher war, ob das eine gute Idee war. Geheimnisse muss man für sich behalten. Eigentlich. Aber, was wenn Oma Habenknecht etwas wusste? Jo überlegte.
«Ich glaube, ich habe einen Verbrecher gesehen. Einen richtigen Verbrecher», sagte sie nachdrücklich. Oma Habenknecht schlug sich mit den Händen auf die faltigen Wangen.
«Nein, was du nicht sagst. Wo denn?»
«Na, hier», antwortete Johanna. Dann erzählte sie Oma Habenknecht von dem grossen Mann mit der Jeanshose und den grossen braunen Schuhen.
«Fünf Meter war der gross?», fragte Oma Habenknecht.
«Mindestens. Und stechende Augen hatte der. Als er an der Zigarette zog, brannte die fast ganz ab. Mit einem Zug.» Johanna war sich sicher, der Mann war ein ganz linker Vogel.
«Und was hat er verbrochen?»
«Das weiss ich ja nicht. Leider war ich zu spät. Aber irgendwo hier ist etwas geschehen und ich werde es herausfinden. Ich und Gertrude», sagte Johanna, stand auf und nahm ihr Vergrösserungsglas in die Hand.
«Und dann, Oma Habenknecht, werden wir den Verbrecher fangen. Und du brauchst dich nicht zu fürchten.» Jo drehte sich auf dem Absatz um und ging ein paar grosse Schritte am Haus entlang, um nach Spuren zu suchen. Gertrude sprang vom Schoss der alten Frau und tippelte hinter der Meisterdetektiven hinterher.
Und da war es auf einmal. Aus einem der Fenster über Johanna kam ein Schrei. Markerschütternd, verzweifelnd und vor allem, klang er nach einem Verbrechen. Nun war keine Zeit zu verlieren. Johanna stiess die Tür zur Nummer 13 auf und rannte, von Gertrude gefolgt die Treppe in den zweiten Stock hinauf. Nach Luft schnappend stand sie vor der offenen Wohnungstür von Lohmanns.
Peter Lohmann sass Zähne knirschend auf der Treppe.
«Jetzt spinnt sie völlig», sagte er und zeigte auf die offene Wohnung. Jo runzelte die Stirn. Sie verstand nicht, was Peter meinte.
Peter war etwas älter, als Johanna. Trotzdem spielte er ab und zu mit ihr. Zumindest, wenn sie auch Fussball spielen wollte. Das ging prima auf dem grossen Platz vor ihrem Haus. Oma Habenknecht schaute dann den beiden zu und gab den Schiedsrichter.
Mitfühlend legte Johanna ihren Arm um Peters Schulter.
«Was ist denn los?», fragte sie.
«Ach. Ist nur wegen der Hausaufgaben, und wegen der Schulnoten auch. Die Lehrerin hat mir einen Brief mitgegeben.» Peter blinzelte Tränen weg. «Nun schmeisst sie meine ganzen Spielsachen in einen grossen Sack. Fortwerfen will sie alles, und das nur weil ich ab und zu in der Schule gefehlt habe und die Hausaufgaben habe ich auch meistens nicht.» Peter schniefte und wischte sich den Rotz mit dem Handrücken weg.
«Und das Verbrechen?», fragte Jo.
«Welches Verbrechen? Was meinst du?»
«Na ist denn kein Verbrechen passiert? Da war doch der Schrei und vorhin der grosse Mann.»
Peter dachte nach. «Nee, ein Mann war nicht hier, glaub ich. Aber meinst du nicht auch, dass es ein Verbrechen ist, wieviel Zeit uns die Schule stiehlt? Blöde Schule. Blöde Hausaufgaben.» Peter stand auf.
«Komm lass uns gehen. Wir finden schon dein Verbrechen.» Enttäuscht schleppte sich Jo die Treppe wieder runter. Und da entdeckte sie etwas an Peters Hals.
«Was ist das?», fragte sie.
«Och das. Das ist nichts. Nur ne Schramme», antwortete Peter und rieb sich verlegen mit Hand über die Stelle.
Doch da war nicht nur eine Schramme. Jo hatte ganz genau gesehen, dass da auch ein dicker blauer Fleck war. Peter zog aber seinen Kaputzenpulli hoch und Jo sah nun nichts mehr.
«Ach, ich muss dann auch mal los», sagte Peter plötzlich und rannte aus der Tür davon.
War das nun ein Fall für die Detektivin? Jo nickte zu Gertrude und rannte hinter Peter hinterher.
Eigentlich mochte sie Peter. Den etwas schlacksigen, blonden Jungen aus Nummer 13. Er war nett zu ihr und spielte sogar mit ihr, obwohl sie kleiner war, als er. Doch nun verhielt er sich verdächtig. Dass er so davon rannte, das hatte was zu bedeuten.
Sie wusste, dass Peter öfter die Schule ausfallen liess um sich dann auf dem Markt oder am Bach herum zutreiben. Das hatte er ihr einmal erzählt. Aber ob die Schule ein Verbrechen war, oder vielleicht doch eher, dass man einfach nicht zur Schule ging, das war eine schwierige Frage, fand Jo. Und jetzt hatte sie keine Zeit darüber nachzudenken.
Sie rannte keuchend hinter Peter hinterher. Der weiter vor ihr in eine kleine Strasse einbog. Als Johanna und Gertrude die Strasse erreichten, standen sie vor mindestens zwanzig Garagen.
Jo kratzte sich das wirre Haar. Sie kauerte sich zwischen zwei Garagen und beobachtete den Platz. Gertrude schmiegte sich an ihr Bein und schnurrte leise. Die Sache war geheimnisvoller, als sie erwartet hatte.
War Peter in einer dieser Garagen verschwunden? Was hatte er vor? Ihr Herz klopfte wild in ihrer Brust.
Zwei grosse, braune Schuhe betraten den Platz. Jo hielt die Luft an. Sie hielt Gertrude sanft an sich gedrückt und duckte sich in die Büsche vor denen sie gehockt hatte.
«Das ist er», flüsterte sie Gertrude ins Ohr. Der schwarze Kater drehte sich um und leckte Jo die Wange.
Langsam ging der Mann zu einer Garage. Dann blieb er stehen und sah sich um. Drei Garagen weiter entdeckte Jo ein blondes Haarbüschel. Peter! Auch er beobachtete den Mann.
Quietschend öffnete der Mann die Garage und schloss sie schnell hinter sich. Peter huschte zur Tür. Er lauschte. Nun schob er die Tür einen Spalt breit auf.
Johanna hielt die Luft an. Was konnte sie tun? Peter verpfeifen? Bestimmt gehörte er zu dem Verbrecher. Denn das er ein Verbrecher war, war Jo nun klar. Anders konnte das gar nicht sein.
Eine Hand griff blitzschnell aus der Tür und riss Peter hinein. Jo sah noch, wie ihm das Entsetzen im Gesicht stand. Vielleicht, gehörte Peter doch nicht zu dem Verbrecher.
Wie es auch war. Jo musste etwas unternehmen. Sie schlich sich zur Garage. Jetzt hörte sie Stimmen. Es polterte. Anscheinend wollte Peter abhauen. Der Mann folgte ihm und stiess dabei Sachen um.
Schritte stürmten auf die Tür zu. Jo riss die Tür weit auf, um, wie sie hoffte, Peter die Flucht zu ermöglichen. Dann stiess sie die Tür blitzschnell wieder zu. Sie klemmte einem kleinen Ast unter die Tür.
«Das wird nicht lange halten», rief Peter ausser Atem. Er nahm einen grösseren Ast und schob diesen als Keil dazu. «Und nun weg hier.»
Er packte Jo am Arm und sie rannten und rannten und rannten, bis sie am Bach waren.
Hier endlich konnten sie sich ausruhen.
«Was ist bloss los?», fragte Johanna, die nun ganz rot im Gesicht war. Und da erzählte ihr Peter, was wirklich passiert war.
Er hatte einige Sachen in der Garage aufbewahrt. Sachen, die er zuvor, ohne sie zu bezahlen, aus dem Laden mitgenommen hatte. Vor ein paar Tagen, war ihm dieser Mann gefolgt. Er hatte ihn bald eingeholt und am Genick gepackt, daher der blaue Fleck. Doch Peter konnte sich befreien. Doch nun suchte ihn der Mann überall. Er war heute schon bei ihm zu Hause und hat seiner Mutter davon erzählt. Seine Mutter hat aber nichts gefunden.
«War ja klar. Ich hab die Sachen ja in der alten Garage deponiert. Bin ja nicht blöd», sagte er.
«Meinst du, der ist von der Polizei?», fragte Jo.
«Nee, der ganz bestimmt nicht. Ich glaube, der will mir nun die Sachen stehlen.»
Jo dachte nach.
«Das ist aber auch ganz schön blöd von dir, die Sachen einfach so zu nehmen, ohne bezahlen. Dann bist du ein Dieb.» Johanna kratzte sich das Kinn.
«Aber wenn du versprichst, das nicht mehr zu machen, ich glaube nämlich nicht, dass du ein Verbrecher bist, dann helfe ich dir.»
Peter schwor, hoch und heilig, beim Namen seiner Mutter, Brunhilde. Das reichte Johanna.
Sie rannten zurück zu den Garagen. Der Mann klopfte gegen die Tür. Noch hielt der Keil.
«Komm, wir müssen den Ladenbesitzer holen und die Polizei.»
War das eine Aufregung gewesen. Johanna sass bei Oma Habenknecht auf der Bank und erzählte ihr die ganze Geschichte. Naja, fast die ganze Geschichte. Dass Peter die Sachen geklaut hatte erzählte sie nicht.
«Und denk dir, als die Polizei die Tür öffnete und den Mann herausholte, da war das doch ein lang gesuchter Verbrecher. Ich hab es dir ja gesagt, das der ein Verbrecher ist. Das hab ich gleich gesehen und Gertrude auch.»
Zufrieden lag der Kater auf Oma Habenknechts Schoss und schnurrte.
«Und war er wirklich fünf Meter gross?», fragte Oma Habenknecht lachend.
«Nee, aber gross war er schon. Das kannste mir glauben.»
Johanna streckte ihre Hand nach Gertrude aus und streichelte den Kater.