Hermann Plotz - Der Tag der Entscheidung
Grelle Schreie zerrissen die morgendliche feuchte Luft. Aber das kannte er ja schon. War es nicht immer das Gleiche. Doch so recht konnte er sich nicht daran gewöhnen. Nur die Kirchenglocken, die zur Messe riefen, ließen einen kurzen Moment der Ruhe zurück. Und dann ging es wieder los. Jeden verdammten Frühling kreischten die Vögel in den beginnenden Tag.
Hermann Plotz schlurfte in seinem Pyjama in die Küche. Seine trockenen Hände massierten seine Stirn. Er nahm die Kaffeekanne von der kalten Heizplatte der Kaffeemaschine und trank den letzten Schluck kalten Kaffee vom Vortag. Es schmeckte nicht nur nach Teer, es glitt ebenso zäh seine Kehle hinunter. Kaffee war was anderes. Aber im Moment brauchte er etwas im Magen. Und wenn es nur eine straßenbelagähnliche Substanz war. Die leere Kanne füllte er mit Wasser und setzte neuen Kaffee auf. Während dieser durch die ratternde Maschine lief, versuchte Hermann Plotz im Bad aus seinem Äußeren eine einigermaßen vorzeigbare Gestalt zu machen. Das fahle Gesicht bekam durch ausgiebiges Waschen mit kaltem Wasser genug Durchblutung, um wieder etwas lebendiger zu wirken. Nur der Fünftagebart störte. Es musste sein. Heute musste es sein. Hermann streichelte sanft über seinen Bart. Das kratzige Geräusch klang wohlig und angenehm. Aber es gab nicht viele die so dachten. In erster Linie sah er damit wie ein Penner aus. Also schärfte er sein Rasiermesser und raspelte die grauen Stoppeln ins Waschbecken. Er hasste Bartstoppeln im Waschbecken. Was auch ein Grund dafür war, dass er sich eher selten rasierte.
Aus der Küche rief die Kaffeemaschine blubbernd nach ihm. Er wischte sich übers glatte Kinn, betrachtete den Typ im Spiegel und fand, dass der überhaupt nichts mit dem Mann zu tun hatte, der in seiner Brust wohnte.
Er trank eine Tasse Kaffee. Den Rest lies er für später stehen. Wenn Kaffee heiß ist, schmeckt er sogar, fand er. Doch meistens hatte er keine Zeit für heißen Kaffee.
Heute musste er sich entscheiden. Und auf irgendeine Weise hatte er dies bereits getan, als er sein Äußeres von seinem Inneren trennte, indem er sich rasierte. Er trat auf die Straße und folgte dem Weg wie gewohnt. Doch bereits an der ersten Kreuzung verließ er alles gewohnte. Er verließ sein Leben und stolperte in eine neue Welt.
Frieda Bosswinkel wartete schon sehnsüchtig an der Tür. Immer wieder sah sie durch die Gardine, ob in der Einfahrt ein Wagen hielt. Aber es tat sich nichts. Schon seit einer Stunde wartete sie. Noch nie hatte sie so lange warten müssen. Eigentlich kamen die Vertreter immer am Vormittag, noch vor zehn Uhr. Und heute? Es war fast elf. Sollte er sie versetzt haben? Vielleicht ist er zu einer anderen gegangen? Frieda warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Sie knetete ihre braunen Locken in Form und schob ihre Brüste zurecht. An ihr kann es nicht liegen. Sie sah gut aus. Vielleicht stand er ja im Stau? Dann beobachtete sie einen schlaksigen Mann in ihrer Einfahrt. Prüfend beugte dieser sich zu ihrem Briefkasten und las das Namensschild. Dann sah er zum Haus. Frieda versteckte sich hinter ihrer Gardine. Erschrocken hielt sie den Atem an. Was wollte der hier? Jetzt wo doch gleich der junge Vertreter von der Staubsaugerfirma kommen musste. Was soll der denn denken? Dass das womöglich ihr Mann war? Ohh, mein Gott, der muss verschwinden, dachte Frieda Bosswinkel. Sie öffnete das Fenster ein wenig und zischte nach draußen. Der Mann drehte sich verwundert um. Er sah zum Haus und dann in den Garten. Wieder zischte Frieda. „Weg da, ksch, weg.“
Hermann blickte auf, als er merkwürdige Geräusche vom Haus her hörte. Was war das? Er stand einen Moment unschlüssig in der schönen Einfahrt. Wenn er zuvor schon nicht wusste, was er tun sollte, war er nun völlig ratlos. Da war es wieder. So ein zischen. Vielleicht war im Garten ein Schlauch kaputt. Hermann Plotz stieg über das Rabattenbeet und ging über die Wiese zum hinteren Teil des Hauses. Aber hier hörte er nichts mehr. Es war schon seltsam. Vielleicht sollte er einfach wieder gehen.
Was tut er denn da?, fragte sich Frieda, die gerade zum großen Wohnzimmerfenster ging und sich vorsichtshalber hinter den dicken Stores versteckte. Sie beobachtete den älteren Mann, der sich gerade tief in ihr Staudenbeet beugte und dabei sehr unvorteilhaft sein Hinterteil ihr entgegen streckte. Er wühlte mit den Armen tief in den Pfingstrosen. Dann stellte er sich wieder gerade hin und sah zum Fenster. Hatte er sie gesehen? Ihr Herz pochte wild in ihrer Brust. Vielleicht war er ein Einbrecher oder ein Penner? Vielleicht suchte er nach Flaschen in ihrem Beet. Frieda holte eine leere Bierdose aus der Küche. Ab und zu trank sie gern abends mal ein Bier zum Fernsehkrimi. Nur die Dosen waren immer ein lästiges Übel. Wie eine Alkoholikerin kam sie sich vor, wenn sie beim Wocheneinkauf zwei Döschen mit aufs Laufband stellte. Manchmal legte sie extra eine Packung Rasierer daneben, damit die Kassiererin dachte, das Bier sei für ihren Mann.
Mit der leeren Bierdose in der Hand öffnete sie nun leise das Fenster und warf schnell die Dose nach draußen.
Was war das? Eine Bierdose traf Hermann am Kopf. Er sah sich um. Seine große Hand rieb über die getroffene Stelle. Es tat nicht sehr weh, aber eine Beule gab es sicher doch. Was war das nur für eine Gegend, wo Leute in so schönen Häusern wohnten und dann leere Bierdosen einfach in den schönen gepflegten Garten warfen? Hermann verstand das nicht. Aber es war auch nicht seine Aufgabe über das Sozialverhalten Bessergestellter nachzudenken. Er nahm seine Suche wieder auf. Aber es befand sich nirgends ein undichter Schlauch, auch kein dichter. Als er alle Beete durchstöbert hatte, ging er zum Haus. Es gab eine Terrassentür. Er klopfte. Von drinnen kam kein Laut. Doch die Gardine wackelte ein bisschen. Also rief er laut, „Hallo.“ Er legte seine Hände an die Scheibe und versuchte hindurch in das Innere des Hauses zu sehen. Es blieb still.
Frieda Bosswinkel erschrak, als sie die dröhnende Stimme hörte. Grobe Hände legten sich auf ihre geputzten Scheiben und hinterließen fettige Handabdrücke. Jetzt versuchte er die Tür aufzudrücken, dachte Frieda. Sie zitterte am ganzen Körper. Ihr wurde kalt. Sie hatte ihn wütend gemacht. Die Dose sollte ihn gar nicht treffen. Aber Frieda hatte nicht hingesehen, als sie die Dose hinaus warf. Sicher wollte er noch mehr. Vielleicht vermutete er Schmuck oder andere Wertgegenstände.
„Gehen sie weg. Ich rufe die Polizei.“, rief sie verzweifelt. Doch der Mann ging gerade wieder um das Haus herum. Frieda suchte in ihrer Verzweiflung nach etwas zu ihrer Verteidigung.
Hatte er da etwas gehört? Vielleicht steht vorn jemand in der Tür und rief nach ihm. Hermann ging um das Haus zum Eingang. Er beugte sich noch einmal zum Namensschild herunter. Er wollte auf gar keinen Fall an der falschen Tür klingeln. Das wäre ja sehr peinlich. Er zupfte sein altes Jackett zurecht. Nun musste er sich entscheiden. Wenn er hier klingelte, wird das sein Leben verändern. Sollte diese Frau dort drinnen nun bei ihm den Vertrag für einen Staubsauger unterschreiben, hatte er den Respekt der Chefetage sicher. Alle Vertreter, die es bisher versucht hatten, hatten bei Frau Bosswinkel kein Glück gehabt. Diese Frau war etwas unschlüssig. Sollte sie nun bei ihm den Abschluss machen, fängt für ihn ein neues Leben an. Ein Leben mit Sonnenschein und heißem Kaffee. Da diese Frau schon alle Staubsauger seiner Firma kannte, hatte er sich nicht die Mühe gemacht ein Vorführmodel mitzubringen. Er war zum ersten Mal im Außendienst. Und es kam ihm sehr seltsam vor, zu einer Frau zu gehen, um bei ihr den Teppich zu saugen. Er wollte sie mit den Produktdaten, mit denen er sich sowieso besser auskannte, überzeugen. Er klingelte.
Ohh, mein Gott. Frieda wurde es ganz schlecht. Sie konnte doch kein Blut sehen. Und da rann jede Menge Blut über das Gesicht des Mannes. Sie hatte ihm die Tür geöffnet und sofort den Schirm in ihrer Hand auf ihn herab sausen lassen. Sie traf sehr unglücklich die Nase des Mannes, aus der augenblicklich dickes rotes Blut strömte. Hermann drückte sich verlegen ein Taschentuch auf die Nase und fragte näselnd, „Sind sie Frau Bosswinkel? Ich habe ihnen ein tolles Staubsaugerangebot mitgebracht. Sie kennen ja bereits unsere ganze Linie und brauchen sich nun nur für einen der ihnen bereits vorgeführten Modelle entscheiden.“ Er zeigte ihr schwach lächelnd den Katalog der Staubsauger und dazu das Angebot.
Frieda konnte es nicht fassen. Da schickt ihr die Firma nicht nur diesen alten, etwas heruntergekommenen Mann ohne Staubsauger, nein jetzt sollte sie auch noch einen Staubsauger kaufen. Wenn sie sich darauf einließe, würde das heißen, dass kein junger Mann mehr zum Staubsaugen vorbei käme. Keiner mehr, der ihren Kuchen aß, bei ihr Kaffee trank und ihr nette Komplimente machte. Sie überlegte kurz.
„Ich habe frischen Kaffee gekocht und vielleicht möchten sie ein Stück Kuchen dazu, während ich mir das Angebot durchlese?“ Eigentlich ist der Mann gar nicht so alt. Höchsten fünf Jahre älter als sie, dachte Frieda lächelnd. Sie ging in die Küche voraus.
Als sie den Kuchen gegessen und drei Tassen Kaffee miteinander getrunken hatten, unterschrieb Frieda den Kaufvertrag und gab Hermann ihre Telefonnummer auf einer kleinen Karte mit Rosenmuster.
Hermann genoss noch lange das wohlige Gefühl des frisch gebrühten Kaffees und lauschte dem Zwitschern der Vögel, als er sich auf den Heimweg machte. Schmunzelnd sah er immer wieder auf die Rosenkarte mit der Telefonnummer. Verlegen streichelte er über sein Kinn, auf dem bereits die ersten Stoppeln spürbar waren. Er musste sich wohl morgen früh wieder rasieren, dachte er und ging nach Hause.