Die kleine Königin von Grüntal – Teil 1: Sonntagmorgen
Psst, da kommt sie, ihre Majestät, die Königin von Grüntal. Sie ist die kleinste Königin, ja sogar die kleinste Person, überhaupt. Wenn sie es möchte kann sie geradewegs unter einem Tisch durchgehen ohne mit dem Kopf anzuschlagen. Ihr Volk dagegen sieht riesig neben ihr aus. Alle ihre Untertanen sind wenigstens doppelt so groß wie sie. Und darum nennt man sie eben die kleine Königin.
Heute patscht die kleine Königin mit den nackten Füßen durch ihren Regierungssaal. Ihr sonnengelber Majestätsmantel schleift hinter ihr am Boden. Sie trägt noch ihren Kuschelpyjama, der mit den Marienkäfern darauf. Es ist Sonntag. Und Sonntags können alle im Palast ausschlafen, nur die kleine Königin kann nicht mehr schlafen. Sie tapst in die Küche, wo sie von ihrem kleinen Kätzchen begrüßt wird. Du hast also auch Hunger, denkt die kleine Königin. Sie stellt dem Kätzchen das Futterschälchen an die Terrassentür. Dann klettert sie an den Küchenschränken bis ganz nach oben. Denn da hat die strenge Köchin die Keksschachtel versteckt. Mit ein paar Keksen in der Hand klettert sie Schublade für Schublade langsam wieder herunter. Und weil sie nicht allein sein möchte, setzt sie sich mit ihren Keksen zu dem Kätzchen auf den Boden. Beide starren in den verschneiten Garten. Sie knabbern an ihrem Frühstück und lauschen in die Stille.
Heute ist ihr schönes Grüntal unter einer meterdicken Schneedecke versteckt. Die Schneeflocken wirbeln so dicht, dass man nicht einmal bis hinter den Gartenzaun sehen kann.
Da kann man nichts machen. An solchen Tagen muss man eben drinnen bleiben. Aber wenn alles schläft, ist es sehr langweilig. Die Königin beißt noch einmal von ihrem Keks ab, dann lässt sie auch ihr Kätzchen davon knabbern. Sie träumt von den satten Wiesen mit den vielen Margeriten, von den hohen Bergen, die Grüntal umgeben. Sie träumt vom Sommer.
Grüntal ist ein weit entferntes Dorf. Drei gewaltige Riesen halten es in ihren Händen. Vor Urzeiten haben sie sich hierher zurückgezogen. Sie setzten sich an ein großes Lagerfeuer und schliefen ein. Aber das ist eine andere Geschichte und wird ein anderes Mal erzählt. Als sie viele tausend Jahre später wieder erwachten, war das Feuer längst erloschen und eine kleine Siedlung hatte sich in ihren Händen niedergelassen. Bäume sind auf ihren dicken Bäuchen gewachsen so dass man die Umrisse der Riesen kaum noch erkennen kann.
Und heute kann man gleich gar nichts erkennen, da das Schneetreiben immer dichter wird. Noch immer schläft alles. Die kleine Königin kann das gar nicht verstehen. Natürlich könnte sie befehlen, dass alles aufsteht, doch dann wären alle sehr mürrisch und es würde keinen Spaß machen mit jemanden zu spielen. So auf Befehl spielt es sich eben nicht gut. Langsam wurde auch die kleine Königin mürrisch und wenn sie schlechte Laune hatte, mochte sie sich selbst auch nicht. Da kam sie auf eine hervorragende Idee. Sie könnte doch verstecken spielen. Das war gut. Und so begann sie in der Küche herumzulaufen und Verstecke zu suchen. Das war ein tolles Spiel. Sie versteckte einfach alles. Die Suppenkelle unterm Sofa, die Topflappen im Kamin, das Gesangsbuch des Hauslehrers im Kartoffelkeller und sogar die Pantoffeln ihres ersten Beraters, die warf sie einfach in den tiefen Schnee im Garten...
Doch plötzlich wurde sie ganz müde. Die ganze Rumrennerei hatte sie erschöpft. Sie legte sich auf ihre Kuscheldecke im Wohnzimmer des Palastes und schlief ein gerade als alles im Palast begann aufzuwachen. Man fand schnell die kleine Königin leise schnarchend auf der Kuscheldecke, neben ihr das Kätzchen. Nur die Kelle, die Pantoffeln und das Gesangsbuch blieben noch eine ganze Weile verschwunden.