Herbstlied
Graue Nebelfetzen ziehen an der Nacht und vertreiben die Dunkelheit. Zaghaft wagen es die ersten Vögel durchs Geäst zu springen um nach Larven und Würmern zu suchen. Ihr leises Piepsen weckt mich. Der Morgen ist mild. Ich atme tief die würzige Herbstluft ein. Mein Blick wandert zu den Baumkronen. Kahle Zweige zeichnen bizarre Muster in den Himmel. Noch einen Moment gebe ich mich meinen Träumen hin. Beobachte die welken Blätter, die mit den ersten Sonnenstrahlen auf den Boden fallen. Frieden durchströmt mich. Doch plötzlich pocht es in mir. Blut schießt mir in den Kopf und pulsiert hinter meinen Schläfen. Nervös wühle ich mich aus meinem Laubbett. Mit steifen Fingern fahre ich mir durch das wirre Haar.
Der Waldboden ist feucht und klebrig. Ich krieche vorsichtig auf allen Vieren über das nasse Laub. Überall liegen kleine Zweige und Blätter am Boden. Es knackt und raschelt bei jedem Schritt. Dann zerreißt ein Schrei die Morgenluft. Natürlich. Du bist noch da. Wo solltest du auch sein? Mein Näherkommen hat dich geweckt. Nun beginnst du wieder mit deinen Tiraden. Erst schreist du mich an. Dann flehst du, weinst sogar. Bis du erschöpft bist. Ich bleibe für dich unsichtbar in der Nähe. Nie hast du mich gesehen. Du weißt nicht einmal, dass ich da bin. Du hörst lediglich, dass sich etwas genähert hat. Ich lausche deinem Gesang aus Geschrei und Verzweiflung.
Wie viele Tage kann ein Mensch ohne Essen überleben? Wie viele Tage ohne Wasser? Fragst du dich das? Aber noch hast du Kraft. Ich höre es aus deiner Stimme. Wasser sammelt sich nachts in der Grube. Du knabberst an Wurzeln, die aus der Erde ranken. Vielleicht isst du auch Käfer? Oder treibt dich die Verzweiflung noch nicht so weit? Ich höre dir zu. Tag für Tag. Wenn du erschöpft bist und vergessen hast, dass hier draußen jemand ist, beginnst du zu reden. Über dein Leben. Wer dir wichtig war. Was dir wichtig war. Dann weinst du wieder. Weinst dich in einen unruhigen Schlaf. Vielleicht hältst du mich für ein Tier? Wartest darauf, dass ich in die Grube springe. Du schreist mich an: „Komm doch und zerreiße mich! Worauf wartest du?“ Doch wie könnte ich dich zerreißen? Ich lebe selbst nur von Wasser, Wurzeln und fetten Maden, ähnlich wie du. Mir liegt nichts am Töten. Nie hat mir ein Tier ein Leid getan. Warum sollte ich das nun tun? Aber das kannst du ja nicht wissen.
Du bist nur eine einfältige Wanderin. Wie kann man nur soweit vom Weg abgehen? Vor allem, wenn man allein unterwegs ist. Der Wanderweg führt zwar steil bergauf, ist doch aber gut ausgeschildert. Dachtest du hier entlang ist es bequemer? Nur weil es nicht so steil ist. Ich habe diese Stelle gewählt, weil kein Wanderer hier lang kommt. Und dann kommst du, fällst in diese vom Regen ausgewaschene Grube.
Jetzt lausche ich deinem Gesang. Eine schöne Herbstsinfonie. Doch die Tage werden kälter und es kündigt sich der Winter an. Im Winter wird es dann sehr still sein.