Willkommen und Abschied
Um diese Zeit war es in der kleinen Stadtrandsiedlung sehr ruhig. Gerade erst blinzelte die Sonne über den Horizont und hunderte Vögel zwitscherten in dietaufeuchte Morgenluft. Auf den hübschen Einfamilienhäusern lag eine friedvolle Familienatmosphäre. Fahrräder standen an Garagentore gelehnt, Wasserschläuche lagen in den Einfahrten und Vorgärten, auf dem Asphalt schlängelten sich Kreidezeichnungen und aus den Fenstern der oberen Etage hingen Bettdecken zum Auslüften.
Sabine trottete durch den Mühlsteinweg. Sie nahm die Fahrräder, die Wasserschläuche und die Bettdecken nicht mehr wahr. Ihr täglicher Morgenspaziergang durch die kleine Wohnsiedlung war schon so zur Gewohnheit geworden, dass sie nicht einmal die grosse Lache wahrnahm, bis sie dann schliesslich mittendrin stand.
«Na so ne Scheisse.», murmelte sie vor sich hin.
«Wie bitte?», antwortete eine pikierte Stimme hinter einerThujahecke. «Also an ihrer Ausdrucksweise müssen sie wirklich arbeiten.»
Sabine schaute schnaufend auf die Hecke. Was war das denn? Sie ging seit 4Wochen täglich diesen Weg doch noch nie hat sie jemanden gesehen. Nur leere Häuser, die aufzuatmen schienen, jetzt da alle Bewohner ausgeflogen waren.
Doch sie waren nicht leer, die Häuser. Sabine bemerkte, wie sie beobachtet wurde. Verräterisch wackeltenhier ein paar Gardinen, dort schlug plötzlich ein Fenster zu, Silhouetten, die sich ganz plötzlich aus der sorgfältig arrangierten Dekoration lösten und verschwanden.
Natürlich waren sie hier. Sie mussten ja hier sein. Wer sollte sonst, die Fenster nach dem Lüften wieder schliessen, wer die Decken wieder rein nehmen und die Betten machen? Da waren sie also, die Frauen. Die heimlichen Herrscherinnen des heiligen Vormittags.
Ein plötzliches unangenehmes Geräusch weckte Sabine aus ihrer Erstarrung. Ein lautes Schnarren und Prusten tönte aus dem offenen Fenster vor ihr. Sabine blickte an sich runter. Ihre hellblauen Turnschuhe sogen sich gerade voll. Sie spürte die klebrige Feuchtigkeit unangenehm ins Innere drinnen.
«Was ist nun? Kommen sie rein, oder gehen sie weiter?», fragte die näselnde Stimme gereizt.
Reinkommen? Sabine kannte hier niemanden. Sie war erst vor 5 Wochen zugezogen und hatte sich nicht viel Mühe gegeben jemanden kennen zu lernen. Ihr kam die bis dahin so verlassene Wohnsiedlung gerade recht. Was sie jetzt brauchte war Ruhe. Sie hatte in den letzten Monaten zu viel erlebt. Um jetzt hier wirklich ankommen zu können, brauchte sie einfach nur ihre Ruhe. Doch damit war es nun vorbei. Die gereizte Stimme gehörte zu einer dünnen hochgewachsenen Frau Mitte vierzig. Die bereits 8:15 Uhr perfekt gestylt, mit einem lockeren Haarknoten, Absatzschuhen und einem engen knielangen Rock nun auf sie zu schritt.
«Nun kommen sie doch endlich daraus. Das kann doch keiner mit ansehen.», sagte sie und zerrte Sabine am Arm hinter sich her. «Schuhe aus.», kommandierte sie an der Haustür «und dann husch rein mit Ihnen.»
Bärbel stellte sich, trotz des pikierten Tons in der Stimme, als eine nette zuvorkommende Frau heraus. Sie hatte sich gerade einen Cappuccino gemacht, das unangenehme Geräusch von vorhin, als sie es nicht mehr mit ansehen konnte, dass Sabine mitten in der Blutlache stand.
Die beiden Frauen unterhielten sich sehr angeregt über allerlei Oberflächliches, das schöne Wetter, die zwitschernden Vögel, der nahende Frühling.
«Haben sie Kinder?», fragte Bärbel schliesslich.
Sabine war überrascht über den plötzlichen Wandel ihrer Unterhaltung.
«Ja, aber die sind erstmal bei ihrem Vater geblieben.» Sabine wollte eigentlich nicht über ihre Trennung sprechen. Doch Bärbel schien das nicht zu berühren. Sie nippte an ihren Cappuccino, leckte sich den Milchschaum von den Lippen und stellte sanft ihre Tasse auf den kleinen Teller zurück.
«Seien sie froh darüber. Sie sind noch jung. Wahrscheinlich sind ihre Kinder noch klein. Vielleicht5, höchstens 8 Jahre alt. Aber warten sie es ab. Auch ihre Kinder werden älter. Und dann kommen sie in die Pubertät.» Bei den letzten Worten kniff Bärbel ihre Augen etwas zusammen, ihre Lippen wurden zu schmalen Linienund ihre Stimme klang plötzlich unheilvoll.
«Naja. Wie dem auch sei. Ihre Kinder sind ja beim Vater, dann wird das nicht ihr Problem werden. Nicht wahr.» Bärbel lachte.
Sabine sah sich verwirrt im Haus um. Sie hatte selten ein so hübsches und aufgeräumtes Haus gesehen. Es machte nicht den Eindruck, dass hier «wilde Teenager» Partys feierten oder der gleichen. Es roch nicht streng, wie sie es aus eigener Erfahrungkannte und auch sonst wies wenig auf die Existenz von Kindern hin. Das Wohnzimmer hätte eben so gut in einem Einrichtungshaus stehen können. Die aktuellen Modefarben, weiss und zart rosa, waren perfekt in allen Einrichtungsgegenständen kombiniert. Ein flauschiges Lammfellimitat lag auf einem Schaukelstuhl in der Ecke, dahinter eine kleine Bücherwand neben dem offenen Kamin.
Es sah hübsch aus. Aber so leben? Die armen Kinder. Aber wahrscheinlich sieht es oben ganz anders aus, dachte Sabine. Und sie hatte recht. Sie wusste gar nicht, wie recht sie damit hatte.
Sabine dachte nicht weiter darüber nach. Sie lehnte sich an die kuschelig weiche Wolldecke, die dekorativ über ihrem Stuhl drapiert lag und genoss ihren Cappuccino. Sanft glitten goldeneSonnenstrahlen über das glänzende Parkett und Sabine wünschte sich, dass dieser Moment nie vorbei ginge. Gerade begann sie sich richtig wohl zu fühlen. Sie glaubte sogar in Bärbel vielleicht eine Freundin gefunden zu haben. Ihr erster Kontakt und dann alles so perfekt und so ruhig.
Sabine atmete tief ein und entspannte sich dann völlig. Die Anspannung der letzten Wochen, ja der letzten Monate fiel, wie ein schwerer Mantel von ihr ab. Vielleicht würde sie doch gern so wie Bärbel wohnen. Oder zumindest ab und zu hier einen Entspannungskaffee trinken kommen. Das war ein schöner Gedanke. Er zauberte ein naives Lächeln in Sabines Gesicht. Bärbel räusperte sich.
«Ich hätte ihnen gern noch einen Kaffee angeboten. Doch ich glaube dafür bleibt keine Zeit mehr», unterbrach Bärbel Sabines kleine Entspannungsübung. Sie sah mit ernster Miene aus dem Fenster. Sabine folgte ihrem Blick. Dann standen beide langsam auf. Vor dem Haus waren mehrere Fahrzeuge der Polizei versammelt. Absperrband wurde um das Haus gezogen und ein paar Polizisten kamen auf die Eingangstür zu.
«Ich glaube, wir hätten uns gut verstanden.», sagte Bärbel. Dann durchriss ein Schuss die Stille.Erschrocken fuhr Sabine herum. Sie sah auf die leblose Gestalt von Bärbel. Dann klingelte es an der Haustür.